Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 107 Geisteswissenschaftliche Menschenkunde

9. Vortrag Berlin, 16. November 1908

Die Zehn Gebote inbezug auf die Gesundheit.

Vorschreitend von dem Beginn, den wir heute vor acht Tagen mit der Betrachtung der Krankheitsformen und des Gesundheitslebens des Menschen gemacht haben, werden wir im Verlaufe dieses Winters immer genauer und genauer eingehen auf damit zusammenhängende Dinge. Alle unsere Betrachtungen werden dann gipfeln in einer Erkenntnis der menschlichen Natur überhaupt, die genauer ist, als wir sie schon mit den bisherigen Mitteln der Anthroposophie haben konnten.

Heute muß sich in unsere Betrachtungen eine Auseinandersetzung über das Wesen und die Bedeutung der Zehn Gebote des Moses einreihen, denn wir werden das später brauchen. Wir werden ja demnächst zu sprechen haben über die tiefe Bedeutung solcher Begriffe wie Erbsünde, Erlösung und dergleichen, und wir werden sehen, daß diese Begriffe im Lichte unserer neuesten, auch wissenschaftlichen Errungenschaften ihre Bedeutung wieder erhalten. Dazu mussen wir aber einmal das Grundwesen dieses merkwürdigen Dokumentes näher untersuchen, das aus den Urzeiten der israelitischen Geschichte herüberragt und das uns wie einer der bedeutendsten Bausteine an dem Tempel erscheint, der als eineArtVorhalle zum Christentum errichtet worden ist.

Gerade bei einem solchen Dokument kann es immer mehr anschaulich werden, wie wenig eigentlich diejenige Gestalt, in der der Mensch die Bibel heute kennen kann, diesem Dokument selbst entspricht. Aus den Einzelheiten, die in den letzten beiden öffentlichen Vorträgen über «Bibel und Weisheit» besprochen worden sind, werden Sie das Gefühl erhalten haben, daß es nicht richtig wäre, wenn jemand meinte: Ach, das sind ja doch alles nur einzelne Ausstellungen an den Übersetzungen, auf solche Genauigkeiten wird es dabei doch nicht ankommen! Es wäre sehr oberflächlich geurteilt, diese Dinge so zu behandeln!

Erinnern Sie sich nur einmal daran, daß darauf aufmerksam gemacht werden konnte, daß der vierte Vers des zweiten Kapitels in der Genesis, richtig übersetzt, eigentlich heißt: «Dieses Folgende wird erzählen die Geschlechter oder das, was hervorgeht

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aus Himmel und Erde», und daß in der Genesis dasselbe Wort hier gebraucht wird für sozusagen «die Nachkommen von Himmel und Erde» wie dort, wo später gesagt wird : «Dies ist das Buch über die Geschlechter - oder die Nachkommenschaft - des Adam.» In beiden Fällen steht dasselbe Wort. Und es bedeutet viel, daß da, wo der Hervorgang des Menschen aus Himmel und Erde geschildert wird, mit demselben Wort gesprochen wird wie später, wo von der Nachkommenschaft des Adam die Rede ist.

Solche Dinge sind nicht etwa bloß eine Verbesserung pedantischer Art, die ein wenig die Übersetzung zurechtrücken würde, sondern solche Sachen greifen an den Nerv nicht nur unserer Übersetzung, sondern des Verständnisses dieses Urdokumentes der Menschheit. Und man spricht eigentlich sozusagen aus den Lebensquellen unserer anthroposophischen Weltanschauung heraus, wenn man sagt, daß es zu den wichtigsten Aufgaben dieser Weltanschauung, ja der Anthroposophie selbst gehöre, die Bibel in einer wahren Gestalt der Menschheit wiederzugeben. Vor allem interessiert uns hier das, was im allgemeinen gesagt worden ist, nunmehr in bezug auf die Zehn Gebote.

Diese Zehn Gebote werden heute eigentlich von der Mehrzahl der Menschen so genommen, als wenn es Gesetzesbestimmungen wären so, wie auch von irgendeinem modernen Staate Gesetze gegeben werden. Man wird ja zugeben, daß diese Gesetze, die in den Zehn Geboten enthalten sind, umfassender, allgemeiner sind und daß sie unabhängig von diesem Ort und dieser Zeit gelten. Man wird sie also für allgemeinere Gesetze halten, aber man hat dabei im Bewußtsein, daß sie doch nur die Wirkung oder dasselbe Ziel haben sollen wie die Gesetze, die heute von einer Gesetzgebung gegeben werden. Dadurch aber verkennt man den eigentlichen Lebensnerv, der in diesen Zehn Geboten lebt. Und wie man ihn verkannt hat, zeigt sich eben darin, daß alle Übersetzungen, die der heutigen Menschheit zugänglich sind, schon unbewußt eine wesentlich oberflächliche, gar nicht in den Geist dieser Zehn Gebote eingehende Erklärung der Sache in sich aufgenommen haben. Wenn wir in diesen Geist eingehen, dann werden Sie sehen, wie sich der Sinn dieser Zehn Gebote einreiht in die Betrachtungen, die wir eben jetzt begonnen haben

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und in bezug auf welche es scheint, als wenn wir einen gar nicht dazugehörigen Seitensprung machen würden, wenn wir die Zehn Gebote betrachten.

Vor allem lassen Sie uns, wie eine Art von Einleitung, einen Versuch machen, wenigstens in einer einigermaßen entsprechenden Weise die Zehn Gebote in deutscher Sprache zu geben, und erst dann vor die Sache hintreten. An dieser, wenn man es so nennen will, Übersetzung der Zehn Gebote wird noch mancherlei gefeilt werden müssen. Aber der Lebensnerv, der eigentliche Sinn, soll zunächst einmal mit dieser Form der Zehn Gebote in deutscher Sprache getroffen werden, wie wir gleich nachher sehen werden.

Wenn man sie sinngemäß übersetzt so, daß man nicht das Lexikon aufschlägt und Wort für Wort übersetzt - wobei natürlich nur das Allerschlechteste herauskommen kann, denn es kommt auf den Wortwert und den ganzen Seelenwert an, den die Sache zu seiner Zeit hatte -, wenn man also den Sinn herausnimmt, dann würden sich diese Zehn Gebote so darstellen:

Erstes Gebot. Ich bin das ewig Göttliche, das du in dir empfindest. Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest. Fortan sollst du andere Götter nicht über Mich stellen. Du sollst nicht als höhere Götter anerkennen, was dir eine Abbildung zeigt von etwas, das oben am Himmel scheint, das aus der Erde heraus oder zwischen Himmel und Erde wirkt. Du sollst nicht anbeten, was von alledem unter dem Göttlichen in dir ist. Denn Ich bin das Ewige in dir, das hineinwirkt in den Leib und daher auf die kommenden Geschlechter wirkt. Ich bin ein fortwirkendes Göttliches. Wenn du Mich nicht in dir erkennst, werde Ich als dein Göttliches verschwinden bei Kindern und Enkeln und Urenkeln, und deren Leib wird veröden. Wenn du Mich in dir erkennst, werde Ich bis ins tausendste Geschlecht als Du fortleben, und die Leiber deines Volkes werden gedeihen.

Zweites Gebot. Du sollst nicht im Irrtum von Mir in dir reden; denn jeder Irrtum über das Ich in dir wird deinen Leib verderben.

Drittes Gebot. Du sollst Werktag und Feiertag scheiden, auf daß dein Dasein Bild Meines Daseins werde. Denn was als Ich in dir lebt, hat in sechs Tagen die Welt gebildet und lebte in sich am siebenten

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Tage. Also soll dein Tun und deines Sohnes Tun und deiner Tochter Tun und deiner Knechte Tun und deines Viehes Tun und dessen, was sonst bei dir ist, nur sechs Tage dem Äußeren zugewandt sein; am siebenten Tage aber soll dein Blick Mich in dir suchen.

Viertes Gebot. Wirke fort im Sinne deines Vaters und deiner Mutter, damit dir als Besitztum verbleibt das Eigentum, das sie sich durch die Kraft erworben haben, die Ich in ihnen gebildet habe.

Fünftes Gebot. Morde nicht.

Sechstes Gebot. Brich nicht die Ehe.

Siebentes Gebot. Stehle nicht.

Achtes Gebot. Setze den Wert deines Mitmenschen nicht herab, indem du Unwahres von ihm sagst.

Neuntes Gebot. Blicke nicht mißgönnend auf das, was dein Mitmensch besitzt als Eigentum.

Zehntes Gebot. Blicke nicht mißgönnend auf das Weib deines Mitmenschen und auch nicht auf die Gehilfen und die anderen Wesen, durch die er sein Fortkommen findet.

Nun fragen wir uns : Was zeigen uns diese Zehn Gebote vor allen Dingen? Wir werden sehen, sie zeigen uns überall, nicht nur in dem ersten Teil, sondern auch in dem letzten Teil, wo es scheinbar verborgen ist, daß durch Moses zu dem jüdischen Volke gesprochen wird in dem Sinne, daß jene Macht nunmehr bei dem jüdischen Volke sein soll, die sich im brennenden Dornbusch dem Moses angekündigt hat mit den Worten als der Bezeichnung seines Namens : «Ich bin der Ich bin!» - «Ehjeh asher ehjeh!»

Hingewiesen ist darauf, daß die anderen Völker in der Entwickelung unserer Erde jenes «Ich bin», den eigentlichen Urgrund des vierten Teiles der menschlichen Wesenheit, nicht so intensiv, so klar haben erkennen können, wie das jüdische Volk das erkennen soll. Jener Gott, der einen Tropfen seines Wesens in den Menschen gegossen hat, so daß das vierte Glied der menschlichen Wesenheit der Träger dieses Tropfens wurde, der Ich-Träger, jener Gott wird zum ersten Male seinem Volke bewußt durch Moses.

Wir können daher sagen: Es liegt den Zehn Geboten die Auffassung zugrunde: zwar hat jener Jahve-Gott gearbeitet und gewirkt an der Hinaufentwickelung der Menschheit auch bis dahin.

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Aber die geistigen Wesenheiten wirken früher, als sie in Klarheit erkannt werden. Dasjenige, was bei den alten Völkern der vormosaischen Zeit gewirkt hat, war zwar ein Wirkendes, ein Arbeitendes, aber als Begriff, als Vorstellung, als eigentlich wirksame Kraft im Innern der Menschenseele wurde es zuerst durch Moses seinem Volke verkündet. Und es handelte sich nun darum, daß diesem Volke klargemacht wurde, welches die ganze umfassende Wirkung dessen sei, sich als ein Ich in dem Maße zu fühlen, wie das beim jüdischen Volke der Fall war. Bei diesem Volke haben wir das Jahve-Wesen als eine Art Übergangswesen zu betrachten: Jahve ist einmal diejenige Wesenheit, welche den Tropfen in die eigene Individualität des Menschen gießt. Aber er ist zu gleicher Zeit Volksgott.

Der einzelne Jude fühlte sich in einer Beziehung noch verbunden mit dem Ich, das in Abrahams Inkarnation auch lebte und das durch das ganze jüdische Volk hinuntergeströmt ist. Das jüdische Volk fühlte sich verbunden mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Es war eine Übergangszeit. Das sollte ja erst durch die Verkündigung des Christentums anders werden. Aber was durch Christus auf die Erde kommen soll, wird vorherverkündigt durch die alttestamentlichen Verkündigungen, vor allem durch das, was Moses seinem Volke zu sagen hat. So sehen wir langsam sich ergießen die volle Kraft der Ich-Erkenntnis in das jüdische Volk im Verlaufe jener Geschichte, die uns das Alte Testament schildert. Es sollte dem jüdischen Volke voll zum Bewußtsein gebracht werden, welche Wirkung es auf des Menschen ganzes Leben hat, wenn er nicht mehr in einer gewissen Unbewußtheit über das Ich lebt, sondern wenn er gelernt hat, das Ich in sich zu fühlen, den Gottesnamen «Ich bin der Ich bin» in seiner Wirkung auf das Innerste seiner Seele zu empfinden.

Heute empfindet man über diese Dinge abstrakt. Heute bleibt es ein Wort, wenn man von dem Ich und über das, was damit zusammenhängt, spricht. In der Zeit, als dieses Ich zuerst in der Gestalt des alten Jahve-Gottes dem jüdischen Volke verkündet worden ist, empfand man dieses Ich als den Einschlag einer Kraft, die in den Menschen hineinkommt und das ganze Gefüge seines astralischen Leibes, seines ätherischen Leibes und seines physischen Leibes verändert.

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Und man mußte diesem Volke sagen: Anders sind die Bedingungen deines Lebens und deiner Gesundheit gewesen, als das Ich noch nicht in deiner Seele als Erkenntnis lebte; vorher waren die Bedingungen von Krankheit und Gesundheit für dein ganzes Leben andere, als sie jetzt werden. Daher kam es darauf an, dem jüdischen Volke zu sagen, in welche neuen Bedingungen es dadurch einrückte, daß es nicht mehr hinaufschauen sollte bloß zum Himmel, hinunterschauen sollte bloß zur Erde, wenn es von Göttern spricht, sondern hineinschauen soll in die eigene Seele. Das der Wahrheit gemäße Hineinschauen in die eigene Seele bringt ein richtiges Leben, bis hinunter in die Gesundheit.

Dieses Bewußtsein liegt durchaus den Zehn Geboten zugrunde, während ein falsches Auffassen dessen, was als Ich in die Seele eingezogen ist, den Menschen nach Leib und Seele verdorren macht, ihn zerstört. Man braucht wirklich nur dokumentarisch vorzugehen, und man kann bemerken, wie wenig diese Zehn Gebote bloß äußere Gesetze sein sollen, wie sie tatsächlich das sein sollen, was eben auseinandergesetzt worden ist: etwas, was für Gesundheit und Heil vom astralischen, ätherischen und physischen Leibe von der einschlagendsten Bedeutung ist.

Aber wo liest man denn heute Bücher richtig und genau? Man brauchte nur einige Seiten weiterzublättern und würde finden, daß in einer weiteren Auslegung der Zehn Gebote dem jüdischen Volke gesagt worden ist, welches die Wirkung der Zehn Gebote auf den ganzen Menschen ist. Da heißt es: «Ich entferne jede Krankheit aus deiner Mitte; es wird keine Fehlgeburt noch Unfruchtbarkeit in deinem Lande sein, und ich werde die Zahl deiner Tage voll werden lassen.»

Das heißt: Wenn das Ich sich so auslebt, daß es sich durchdringt mit dem Wesen der Zehn Gebote, so wird unter anderm das eintreten, daß du nicht in der Blüte deiner Jahre dahinsterben kannst, sondern durch das richtig erfaßte Ich kann in die drei Leiber, astralischen Leib, Ätherleib und physischen Leib, etwas einströmen, was die Zahl deiner Jahre voll werden läßt, was dich bis ins höchste Alter gesund leben läßt. Das wird ganz deutlich gesagt. Aber es ist notwendig, ganz tief in diese Dinge einzudringen.

Das können allerdings moderne Theologen nicht so leicht. Denn ein populäres Büchlein,

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das auch sonst recht geeignet ist, Ärgernis zu erregen, weil es für ein paar Pfennige zu haben ist, sagt über die Zehn Gebote auch den Satz : Man kann ja leicht sehen, daß in den Zehn Geboten die hauptsächlichsten menschlichen Gesetze gegeben sind, in der einen Hälfte die Gebote gegen Gott, in der andern Hälfte die Gebote gegen die Menschen. Damit er nicht zu sehr danebenhaut, sagt der betreffende Verfasser, das vierte Gebot müsse man noch zu der ersten Hälfte hinzunehmen, die sich auf Gott bezieht. Wie es der Herr dann zuwege bringt, daß vier die eine Hälfte, sechs die andere Hälfte ist, das sei nur ein kleines Zeichen dafür, wie man heute zu Werke geht. Alles andere in diesem Buche entspricht auch der schönen Gleichung: Vier ist gleich sechs.

Wir haben es mit der Erklärung zu tun, die dem jüdischen Volke gegeben wird über die richtige Einlebung des Ichs in die drei Leiber des Menschen. Da handelt es sich vor allem darum, daß gesagt wird - und das tritt uns gleich im ersten Gebot entgegen -: Wenn du dir dieses Ichs als eines Funkens der Göttlichkeit bewußt wirst, so bist du so, daß du im Ich einen Funken, einen Ausfluß der höchsten, mächtigsten Göttlichkeit, die an dem Schaffen der Erde beteiligt ist, zu empfinden hast.

Erinnern wir uns, was wir über die Entwickelungsgeschichte des Menschen haben sagen können. Wir haben sagen können, daß der physische Leib des Menschen während des uralten Saturndaseins entstanden ist. Da haben Götter daran gearbeitet.

Dann ist auf der Sonne der Ätherleib dazugekommen. Wie beide Leiber weiter verarbeitet worden sind, das ist wieder das Werk von geistig-göttlichen Wesenheiten.

Dann auf dem Monde hat sich der Astralleib eingegliedert, alles als das Werk göttlich-geistiger Wesenheiten.

Was dann den Menschen zum Menschen im heutigen Sinne gemacht hat, das war auf der Erde die Eingliederung seines Ichs. Dabei hat die höchste Göttlichkeit mitgewirkt. Solange sich daher der Mensch nicht dieses vierten Gliedes seiner Wesenheit voll bewußt werden konnte, konnte er auch nicht eine Ahnung haben von dem höchsten Göttlichen, das an seinem Werden beteiligt und in ihm vorhanden ist. Der Mensch muß sich sagen: An meinem physischen Leib haben Göttlichkeiten

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gearbeitet, die aber niedriger sind als diejenige Göttlichkeit, die mit jetzt das Ich geschenkt hat.

Ebenso ist es mit dem Ätherleib und dem astralischen Leib. Also mußte dem jüdischen Volke, das zuerst die prophetische Kunde erhielt von diesem Ich, gesagt werden: Werde dir bewußt, daß die Völker um dich herum Götter verehren, die nach ihrer gegenwärtigen Stufe am astralischen Leib, Ätherleib und physischen Leib mitwirken können. Aber sie können nicht mitwirken an dem Ich. Dieser Gott, der im Ich wirkt, war zwar immer da; er hat sich angekündigt durch sein Wirken und Schaffen. Seinen Namen aber verkündet er dir jetzt.

Durch die Anerkennung der andern Götter ist der Mensch kein freies Wesen. Da ist er ein Wesen, welches die Götter seiner niederen Glieder anbetet.

Wenn der Mensch aber den Gott bewußt erkennt, von dem ein Teil in seinem Ich ist, dann ist er ein freies Wesen, ein Wesen, das sich als freies Wesen seinen Mitmenschen gegenüberstellt. Der Mensch steht heute nicht so zu seinem astralischen Leib, Ätherleib und physischen Leib, wie er zu seinem Ich steht. In diesem Ich ist er drinnen. Es ist ihm unmittelbar das nächste, dem er gegenübersteht.

Zu seinem astralischen Leib wird er erst so stehen, wenn er ihn zum Manas umgewandelt hat, und zu seinem Ätherleib erst, wenn er ihn zur Buddhi umgestaltet, wenn er ihn von seinem Ich aus zu einem Göttlichen entwickelt hat.

Wenn das Ich auch zuletzt entstanden ist, es ist doch das, worin der Mensch lebt. Und wenn er das Ich erfaßt, so erfaßt er daher das, in dem ihm das Göttliche in seiner unmittelbaren Gestalt entgegentritt, in seiner ureigenen Gestalt, während diejenigen Formen seines astralischen Leibes, Ätherleibes und physischen Leibes, die er heute an sich hat, von vorhergehenden Göttern gebildet sind. So verehrten die umliegenden Völker im Gegensatz zu dem israelitischen Volke diejenigen Gottheiten, die an diesen niederen Wesensgliedern des Menschen gearbeitet haben. Und wenn ein Bild gemacht wurde von diesen niederen Gottheiten, so wurde dieses Bild irgendeiner Form, die auf der Erde oder am Himmel oder zwischen Himmel und Erde war, ähnlich. Denn alles, was der Mensch in sich hat, ist ja in der ganzen übrigen Natur ausgebreitet.

Macht sich der Mensch Bilder aus dem Mineralreiche, so

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können sie ihm nur diejenigen Gottheiten vorstellen, die am physischen Leibe gearbeitet haben.

Macht er sich Bilder aus dem Pflanzenreiche, so können sie ihm nur die Gottheiten vorstellen, die an dem Ätherleib gearbeitet haben, denn den Ätherleib hat der Mensch gemeinschaftlich mit der Pflanzenwelt.

Und Bilder aus dem Tierreich können ihm nur diejenigen Gottheiten symbolisieren, die an dem astralischen Leibe gearbeitet haben.

Das aber, wodurch der Mensch die Krone der Erdenschöpfung ist, ist das, was er in seinem Ich erfaßt. Das kann kein äußeres Bild ausdrücken.

Und in aller Schärfe mußte daher dem jüdischen Volke klargemacht und betont werden: Es ist etwas in dir, das der unmittelbare Ausfluß des gegenwärtig höchsten der Götter ist. Das kann nicht symbolisiert werden durch ein Bild aus dem Mineralreich, Pflanzenreich oder Tierreich, und wäre es ein noch so erhabenes. Alle Götter, denen auf diese Weise gedient wird, sind niederere Götter als der Gott, der in deinem Ich lebt. Willst du diesen Gott in dir verehren, dann müssen die andern zurücktreten, dann hast du die gesunde, wahre Kraft deines Ich in dir.

Also es hängt zusammen mit den tiefsten Geheimnissen der Menschheitsentwickelung, was uns gleich im ersten der Zehn Gebote gesagt wird: «Ich bin das ewig Göttliche, das du in dir empfindest. Die Kraft, die Ich in dein Ich gelegt, wurde der Antrieb, die Kraft, durch die du aus dem Lande Ägypten entfiohest, wo du nicht Mir in dir folgen konntest.» Da heraus hat Moses auf die Weisung des Jalive hin sein Volk geführt.

Und um uns das ganz deutlich zu machen, wird noch besonders darauf hingewiesen, daß der Gott Jahve sein Volk zu einem Volk von Priestern machen wollte. Bei den andern Völkern waren diejenigen, die dem Volke als die Freien gegenüberstanden, die Priester-Weisen. Das waren die Freien, die um das große Geheimnis des Ich wußten, die auch den unbildlichen Ich-Gott kannten. So daß man in diesen Ländern sich gegenüberstehend hatte diese wenigen ich-bewußten Priester-Weisen und die große unfreie Masse, die sozusagen nur hören konnte auf das, was die Priester-Weisen aus den Mysterien unter der strengsten Autorität herausffießen ließen. Nicht der einzelne aus dem Volke hatte ein solches unmittelbares Verhältnis,

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sondern die Priester-Weisen hatten es für die einzelnen vermittelt. Daher hing alles Wohl, alles Heil von diesen Priester -Weisen ab: wie sie die Einrichtungen schufen, alles organisierten, davon hing Heil und Gesundheit ab.

Viel müßte ich Ihnen erzählen, wenn ich Ihnen den tieferen Sinn des ägyptischen Tempeischlafes und seine Wirkung auf die Volksgesundheit schildern wollte, wenn ich schildern wollte, was einfach an Volks-Heilmitteln für die Gesundheit ausfloß durch einen solchen Kultus, wie es zum Beispiel der ApisKultus war. In einem solchen Volke war die ganze Lenkung und Leitung des Volkes darauf bedacht, daß unter der Führung der Eingeweihten aus diesen Kultusstätten heraus die Fluida für die Gesundheit kamen.

Das sollte nun anders werden. Zu einem Volke von Priestern sollten die Juden werden. Jeder einzelne sollte in sich einen Funken dieses Jahve-Gottes fühlen und ein unmittelbares Verhältnis zu ihm erhalten. Nicht mehr sollte der Priester-Weise der einzige Vermittler sein. Daher mußte man dem Volke auch dafür Anweisung geben. Es mußte darauf aufmerksam gemacht werden, daß die falschen Bilder, also die niedrigeren Bilder des höchsten Gottes, auch ungesund wirken. Da kommen wir auf ein Kapitel, von dem sich der heutige Mensch nicht leicht ein Bewußtsein wird verschaffen können. Heute wird ja in dieser Beziehung Ungeheures gesündigt.

Nur wer in die Geisteswissenschaft eindringen kann, der weiß, auf welche geheimnisvolle Art Gesundheit und Krankheit sich entwickeln. Wenn Sie durch die Straßen einer Stadt gehen und da die Scheußlichkeiten an den Anschlagsäulen und in den Schaufenstern vor die Seele geführt bekommen, übt das einen schaurigen Einfluß aus. Die materialistische Wissenschaft hat keine Ahnung davon, wie viel an Krankheitskeimen in diesen Scheußlichkeiten liegt. Man sucht bloß die Krankheitserreger in den Bazillen und weiß nicht, wie auf dem Umwege durch die Seele Gesundheit und Krankheit in den Körper geführt werden. Hier wird erst eine mit der Geisteswissenschaft bekannte Menschheit wissen, welche Bedeutung es hat, wenn der Mensch diese oder jene bildlichen Vorstellungen in sich aufnimmt.

Vor allen Dingen wird in dem ersten Gebote gesagt, es müsse nunmehr der Mensch sich eine Vorstellung davon machen können, daß

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über alles hinaus, was durch ein Bildliches geistig ausgedrückt werden kann, es noch einen Impuls geben kann, der unbildlich ist, der an diesem Punkt des Ich an das Übersinnliche angrenzt. «Fühle stark dieses Ich in dir, und fühle es so, daß in diesem Ich ein Göttliches dich durchwebt und durchwallt, das höher ist als alles, was du durch ein Bild ausdrücken kannst; dann hast du in einem solchen Gefühl eine Kraft der Gesundheit, die deinen physischen Leib, deinen Ätherleib und deinen astralischen Leib gesund machen wird!»

Es sollte ein starker Ich-Impuls dem jüdischen Volke mitgeteilt werden, der gesund macht. Wird dieses Ich in richtiger Weise erkannt, dann wird dadurch der astralische, der ätherische und der physische Leib wohl gebildet, und das schafft eine starke Lebenskraft und eine starke Gesundheitskraft, die sich, von einem jeden ausgehend, dem ganzen Volke mitteilt. Da man ein Volk durch tausend Geschlechter zählte, so sagte der Jahve-Gott dieses Wort, daß durch die richtige Ein-prägung des Ichs der Mensch selbst zu einem Quell der ausstrahlenden Gesundheit wird, so daß das ganze Volk, wie es ausgedrückt ist, «bis ins tausendste Geschlecht hinein» ein gesundes Volk sein wird.

Wird aber das Ich nicht in der richtigen Weise verstanden, so verdorrt der Leib, wird siech und krank. Stellt sich der Vater das Wesen des Ichs nicht in der richtigen Weise in seine Seele hinein, so wird sein Leib siech und krank, das Ich zieht sich langsam zurück; der Sohn wird noch siecher, der Enkel noch siecher, und zuletzt haben wir nur noch eine Hülle, aus der der Jahve-Gott gewichen ist. Was den Ich-Impuls nicht aufkommen läßt, das bringt allmählich bis ins vierte Glied hinein den Leib zum Verdorren.

So sehen wir, daß es die Lehre von der richtigen Wirkung des Ichs ist, die in dem ersten der Zehn Gebote vor das Volk des Moses hin-ges tellt wird: «Ich bin das ewig Göttliche, das du in dir empfindest. Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest. Fortan sollst du andere Götter nicht über Mich stellen. Du sollst nicht als höhere Götter anerkennen, was dir eine Abbildung zeigt von etwas, das oben am Himmel scheint, das aus der Erde heraus oder zwischen Himmel und Erde wirkt. Du sollst nicht anbeten,

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was von alledem unter dem Göttlichen in dir ist. Denn Ich bin das Ewige in dir, das hineinwirkt in den Leib und daher auf die kommenden Geschlechter wirkt. Ich bin ein fortwirkendes Göttliches - nicht: , denn das sagt hier nichts. - Wenn du Mich nicht als dein Göttliches erkennst, werde Ich als dein Ich verschwinden bei Kindern, Enkeln und Urenkeln, und ihr Leib wird veröden. Wenn du Mich in dir erkennst, werde Ich bis ins tausendste Geschlecht als Du fortleben, und die Leiber deines Volkes werden gedeihen.»

Da sehen wir, daß nicht bloß ein Abstraktes gemeint ist, sondern ein lebendig Wirksames, das bis in die Volksgesundheit hineinwirken soll. Zurückgeführt wird der äußere Gesundheitsprozeß auf das Geistige, das darin liegt und das stufenweise der Menschheit verkündet wird. Darauf wird im besonderen noch hingedeutet im zweiten Gebot, wo ausdrücklich gesagt wird: Du sollst dir keine falschen Vorstellungen von meinem Namen, von dem, was als Ich in dir lebt, machen; denn eine richtige Vorstellung macht dich gesund und lebenskräftig und ist dir zum Heil, eine falsche Vorstellung aber läßt deinen Leib veröden! - So wurde jeder Angehörige des mosaischen Volkes im besonderen darauf hingewiesen, daß jedesmal, wenn der Gottes-Name ausgesprochen wird, er sich dieses eine Warnung sein lassen soll: Ich soll den Namen dessen, was in mir eingezogen ist, so wie es in mir lebt, erkennen, denn das ist Anregung zur Gesundung.

«Du sollst nicht im Irrtum von Mir in dir reden; denn jeder Irrtum über das Ich in dir wird deinen Leib verderben!»

Und dann im dritten Gebot der deutliche strenge Hinweis darauf, wie der Mensch, wenn er ein wirkendes, ein schaffendes Ich ist, ein wirklicher Mikrokosmos ist, gleich wie der Jahve-Gott sechs Tage geschaffen hat und am siebenten Tage ruhte und damit das Urbild hins teIlte, das der Mensch in seinem Schaffen nachbilden soll. Es wird im dritten Gebot ausdrücklich darauf hingewiesen: Du Mensch, du sollst, indem du ein richtiges Ich bist, auch ein Abbild deines höchsten Gottes sein, und in deinen Taten so wirken wie dein Gott! - Es ist also die Aufforderung, dem Gotte, der sich dem Moses im brennenden Dornbusch geoffenbart hat, immer ähnlicher zu werden.

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«Du sollst Werktag und Feiertag scheiden, auf daß dein Dasein Bild Meines Daseins werde. Denn was als Ich in dir lebt, hat in sechs Tagen die Welt gebildet und lebte in sich am siebenten Tage. Also soll dein Tun und deines Sohnes Tun und deiner Tochter Tun und deiner Knechte Tun und deines Viehes Tun und dessen, was sonst bei dir ist, nur sechs Tage dem Äußeren zugewandt sein; am sieben­ten Tage aber soll dein Blick Mich in dir suchen.»

Nun geht das Zehn-Gebote-Werk immer mehr auf das einzelne über. Aber immer ist im Hintergrund dabei der Gedanke, daß es die fortwirkende Kraft ist, die als Jahve oder Jehova wirkt. Es wird im vierten Gebote der Mensch hinausgeleitet von den Beziehungen zu dem Übersinnlichen zu dem äußerlich Sinnlichen. Es wird auf etwas sehr Wichtiges in diesem vierten Gebot hingewiesen, und das muß verstanden werden.

Da, wo der Mensch als ein selbstbewußtes Ich ins Dasein tritt, da tritt er so in dieses Dasein ein, daß er äußere Mittel braucht, um dieses Dasein ins Werk zu setzen. Er entwickelt das, was man einzelnes, individuelles Eigentum und Besitztum nennt. Wenn wir zurückgingen in die alte ägyptische Zeit, würden wir bei der großen Masse des Volkes ein solches individuelles Besitztum noch nicht finden. Wir würden finden, daß die, welche über das Besitztum zu entscheiden haben, auch die Priester-Weisen sind. Jetzt aber, wo jeder ein individuelles Ich entwickeln soll, wird er in die Notwendigkeit versetzt, in das Äußere einzugreifen, etwas Eigenes um sich herum zu haben, um sein Ich in der Außenwelt darzustellen.

Es wird deshalb im vierten Gebot darauf hingewiesen, daß derjenige, der das individuelle Ich in sich wirken läßt, Besitztum erwirbt, daß aber dieses Besitztum an die Kraft des Ichs gebunden bleibt, das fortlebt im jüdischen Volke und von Vater auf Sohn und Enkel sich fortpflanzen soll, und daß das Eigentum, das der Vater gehabt hat, nicht unter der starken Kraft des Ichs stände, wenn der Sohn das Werk seines Vaters nicht fortführen würde unter der Kraft des Vaters. Es wird daher gesagt: Lasse das Ich in dir so stark werden, daß es hinunter dauert und daß der Sohn mit den Mitteln, die er vom Vater ererbt, auch die Mittel zum äußeren Einleben in die äußere Umgebung erhalten kann.

So bewußt wird der Konservatismus des Eigentumsgeistes in dieser

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Zeit dem Volke des Moses gegeben. Es liegt auch in den folgenden Gesetzen noch durchaus das Bewußtsein zugrunde, daß okkulte Kräfte hinter allem stehen, was in der Welt geschieht. Während man heute nur ganz äußerlich abstrakt das Vererbungsrecht ansieht, waren sich diejenigen, die das vierte Gebot richtig verstanden haben, dessen bewußt, daß geistige Kräfte sich fortpflanzen mit dem Eigentum von Generation zu Generation, hinüberleben von einem Geschlecht zum anderen, daß sie die Ich-Kraft erhöhen und daß dadurch der Ich-Kraft der einzelnen Individualität etwas zufließt, was ihr zugeführt wird von der Ich-Kraft des Vaters.

Man kann das vierte Gebot nicht grotesker übersetzen, als es gewöhnlich geschieht; denn der Sinn ist der folgende: Es soll in dir die starke Ich-Kraft entwickelt werden, die über dich hinauslebt, und das soll übergehen auf den Sohn, damit seiner Ich-Kraft etwas zuwachse, was als das Eigentum seiner Vorfahren in ihm fortwirken kann.

«Wirke fort im Sinne deines Vaters und deiner Mutter, damit dir als Besitztum verbleibt das Eigentum, das sie sich durch die Kraft erworben haben, die Ich in ihnen gebildet habe.»

Und weiter liegt allen folgenden Gesetzen zugrunde, daß die Ich-Kraft des Menschen erhöht wird durch die richtige Anwendung des Ich-Impulses, daß sie aber durch seine falsche Anwendung zugrunde gerichtet wird. Das fünfte Gebot sagt etwas, was eigentlich im richtigen Sinne nur aus der Geheimwissenschaft heraus zu verstehen ist. Alles, was mit Töten, mit der Vernichtung fremden Lebens zusammenhängt, schwächt die selbstbewußte Ich-Kraft im Menschen. Man kann dadurch im Menschen die schwarzmagischen Kräfte erhöhen; da erhöht man aber nur unter Umgehung der Ich-Kraft die astralischen Kräfte im Menschen. Was als Göttliches im Menschen ist, das wird vernichtet durch jedes Töten. Daher spielt dieses Gesetz nicht nur auf etwas Abstraktes an, sondern auch auf etwas, wodurch dem Menschen in seinem Ich-Impuls okkulte Kraft zuströmt, wenn er Leben erhöht, Leben gedeihen macht, Leben nicht vernichtet. Das wird als ein Ideal für die Erhöhung der individuellen Ich-Kraft hingestellt, und nur auf weniger stark betonten Gebieten wird dasselbe gefordert im sechsten und siebenten Gebot.

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Durch die Ehe wird ein Zentrum für die Ich-Kraft begründet. Wer die Ehe zerstört, wird daher in demjenigen geschwächt, was der Ich-Kraft zufließen soll.

Ebenso schwächt derjenige seine Ich-Kraft, der etwas von des anderen Ich-Kraft nehmen und durch Wegnehmen, Stehlen und so weiter Besitztum erwerben will. Es liegt auch da durchaus der führende Gedanke zugrunde, daß das Ich sich nicht schwächen soll.

Und jetzt wird in den letzten drei Geboten sogar darauf hingewiesen, wie der Mensch durch eine falsche Richtung seiner Begierden seine Ich-Kraft schwächt. Das Begierdenleben hat eine große Bedeutung für die Ich-Kraft. Die Liebe erhöht die Kraft des Ichs, die Mißgunst, der Haß läßt die Ich-Kraft verdorren.

Wenn also der Mensch seinen Mitmenschen haßt, wenn er seinen Wert herabsetzt, indem er etwas Falsches von ihm sagt, so schwächt er dadurch die Ich-Kraft, macht alles, was um ihn herum ist, an Gesundheit und an Lebenskraft geringer. Ebenso ist es mit der Mißgunst auf das Besitztum des anderen. Schon die Begierde nach dem Gute des Nächsten macht seine Ich-Kraft schwach. Und ebenso ist es im zehnten Gebote : wenn der Mensch neidisch hinschaut auf die Art und Weise, wie der andere sein Fortkommen sucht, und nicht nach der Liebe zum andern strebt und dadurch seine Seele erweitert und die Kraft seines Ichs hervorsprießen läßt.

Nur dann, wenn wir die besondere Kraft des Jahve-Gottes darunter verstehen und seine Art der Offenbarung dem Moses gegenüber ins Auge fassen, können wir begreifen, was jetzt als ein besonderes Bewußtsein in das Volk einfließen soll, und es wird überall zugrunde gelegt, daß nicht abstrakte Gesetze gegeben werden, sondern gesunde, für Leib, Seele und Geist im weitesten Sinne heilsame Verordnungen. Wer diese Gebote nicht in abstrakter, sondern in lebendiger Weise hält, der wirkt auf das ganze Heil und den ganzen Fortschritt des Lebens. Es konnte in dem Zeitpunkt das auch gar nicht anders geoffenbart werden, als daß zugleich Vorschriften gegeben wurden, in welcher Art diese Gebote auch zu befolgen sind. Denn die andern Völker lebten dem jüdischen Volke gegenüber in einer ganz andern Weise; sie brauchten solche Gebote mit solchem Sinn nicht.

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Wenn unsere Gelehrten heute die Zehn Gebote nehmen, sie lexikographisch übersetzen und sie vergleichen mit andern Gesetzen, zum Beispiel mit dem Gesetz des Hammurabi, so heißt das eben, daß sie keine Ahnung haben von dem Impuls, auf den es ankommt. Nicht auf das «Du sollst nicht stehlen!» oder «Du sollst diese oder jene Feiertage heiligen!» kommt es an, sondern darauf, welcher Geist durch diese Zehn Gebote hindurchströmt und wie dieser Geist mit dem Geiste dieses Volkes, aus dem heraus das Christentum geschaffen wurde, zusammenhängt.

So müßte man alles, was man empfinden und fühlen könnte in dem Selbständigwerden, das Priesterwerden jedes einzelnen in diesem Volke, nachfühlen können, wenn man überhaupt dieses Zehn-Gebote-Werk verstehen will. Es ist heute noch gar nicht die Zeit, dieses so konkret zu fühlen, wie es die Glieder jenes Volkes haben empfinden können. Daher wird heute auch alles mögliche hineinübersetzt, was im Lexikon steht, was aber nicht dem Geist der Sache entspricht. Kann man es doch immer lesen, daß das Volk des Moses hervorgegangen wäre aus einem Beduinenvolk, und daß daher nicht Gebote wie bei einem Ackerbau treibenden Volke gegeben werden konnten. Und daher - so schließen die Gelehrten - müßten die Zehn Gebote später gegeben worden sein und wären nachher zurückdatiert worden.

Wenn die Zehn Gebote das wären, was die Herren darunter verstehen, dann hätten sie damit recht. Aber sie verstehen es eben nicht. Gewiß, die Juden waren vorher eine Art Beduinenvolk. Aber diese Gebote wurden ihm eben gegeben, damit das Volk unter dem Impuls der Ich-Kraft einer ganz neuen Zeit entgegengehen sollte. Daß Völker sich aus dem Geiste heraus bilden, dafür ist das gerade der beste Beweis.

Es gibt kaum ein so großes Vorurteil, als wenn gesagt wird : Ja, zur Zeit des Moses war das jüdische Volk noch ein wanderndes Beduinenvolk; was hätte es da für einen Sinn gehabt, diesem Volk die Zehn Gebote zu geben! - Es hat einen Sinn gehabt, solche Gesetze dem jüdischen Volke zu geben, damit eben der Ich-Impuls mit aller Kraft dem Volke eingeprägt werden konnte. Es hat sie bekommen, weil es durch diese Gebote seinem äußeren Leben eine ganz neue Form geben sollte, weil vom Geiste aus ein ganz neues Leben geschaffen werden sollte.

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So haben in der Tat die Zehn Gebote fortgewirkt, und in diesem Sinn sprechen auch noch die verständnisvollen Angehörigen der ersten Zeit des Christentums von dem Gesetz des Moses. Sie finden daher, daß der Ich-Impuls ein anderer wird durch das Mysterium von Golgatha, als er es in den Zeiten des Moses war. Sie sagten sich: der Ich-Impuls ist durchtränkt worden durch das Zehn-Gebote-Werk; dadurch wurde das Volk stark, wenn es die Zehn Gebote befolgte.

Jetzt ist ein anderes da. Jetzt ist die Gestalt da, die dem Mysterium von Golgatha zugrunde liegt. Jetzt kann dieses Ich hinschauen auf das, was so verborgen durch die Zeiten gegangen ist, es kann hinblicken auf das Größte, was es sich erwerben kann, was es stark und kräftig macht durch die Nachfolge dessen, der auf Golgatha gelitten hat und der das größte Vorbild des werdenden Menschen in der Zukunft ist. Dadurch trat der Christus für die, welche das Christentum wirklich verstanden, an die Stelle jener Impulse, die vorbereitend in dem Alten Testament gewirkt haben.

So also sehen wir, wie es tatsächlich eine tiefere Auffassung der Zehn Gebote gibt.