Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 107 Geisteswissenschaftliche Menschenkunde

15. Vortrag Berlin, 15. Februar 1909


Vervielfältigung von Äther- und Astralleibern vor Christus in der semitischen Erblinie, nach Christus in beliebigen Menschen.

Sie haben aus dem einen Vortrag, der hier über kompliziertere Fragen der Wiederverkörperung gehalten worden ist, ersehen können, daß mit dem weiteren Fortschreiten in der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung dasjenige, was man anfangs geben konnte als elementare Wahrheiten, sich modifiziert, daß wir allmählich zu höheren und höheren Wahrheiten aufsteigen. Es bleibt deshalb doch richtig, daß man im Anfang die allgemeinen Weltwahrheiten so elementar, so einfach wie möglich darstellt. Es ist aber auch notwendig, daß man nach und nach vom Abc aus langsam hinaufdringt zu den höheren Wahrheiten; denn durch diese höheren Wahrheiten wird ja erst allmählich das erreicht, was unter anderem die Geisteswissenschaft geben soll: die Möglichkeit nämlich, die Welt, die uns in der sinnlichen, in der physischen Sphäre umgibt, zu verstehen, zu durchdringen. Nun haben wir allerdings noch sehr weit hinauf, bis es uns gelingen wird, einigen Zusammenhang zeichnen zu können in den geistigen Linien und Kräften, die hinter der Sinneswelt sind. Aber schon durch manches, was in den letzten Stunden gesagt worden ist, wird diese oder jene Erscheinung unseres Daseins erklärlicher, klarer geworden sein.

Heute wollen wir gerade in dieser Beziehung ein wenig vorschreiten, und auch da wollen wir wieder über kompliziertere Fragen der Reinkarnation, der Wiederverkörperung sprechen. Dazu wollen wir uns heute vor allen Dingen klarmachen, daß zwischen den Wesenheiten, welche eine führende Stellung einnehmen in der Menschheitsentwickelung der Erde, ein Unterschied besteht. Wir haben im Laufe unserer Erdenentwickelung solche führenden Individualitäten zu unterscheiden, welche sozusagen von Anfang an mit der Menschheit unserer Erde, wie sie eben ist, sich entwickelt haben, nur daß sie schneller fortgeschritten sind.

Man möchte so sagen: Wenn man zurückgeht bis in die Zeit der urfernen lemurischen Vergangenheit, so findet man unter den damals verkörperten Menschenwesen die verschiedensten Entwickelungsgrade. Alle die

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Seelen, die damals verkörpert waren, haben durch die folgende atlantische Zeit, durch unsere nachatlantische Zeit immer wieder und wieder Reinkarnationen, Wiederverkörperungen durchgemacht. Mit einer verschiedenen Schnelligkeit haben sich die Seelen entwickelt. Da leben Seelen, die verhältnismäßig langsam durch die verschiedenen Inkarnationen sich hindurchentwickelt haben, die noch weite, weite Strecken in der Zukunft erst zu durchschreiten haben. Da sind aber auch solche Seelen, welche sich rasch entwickelt haben, die, man könnte sagen, in ausgiebigerem Maße ihre Inkarnationen benutzt haben, und die daher heute auf einer so hohen Stufe stehen in seelisch-geistiger, also in spiritueller Beziehung, daß der normale Mensch von heute erst in einer sehr, sehr fernen Zukunft zu einer solchen Stufe hinanschreiten wird. Aber wenn wir in dieser Sphäre von Seelen bleiben, so können wir doch sagen: so fortgeschritten diese einzelnen Seelen auch sein mögen, wie weit sie auch hinausragen mögen über den normalen Menschen, sie haben doch innerhalb unserer Erdenentwickelung einen gleichartigen Gang durchgemacht mit den übrigen Menschen; sie sind eben nur schneller fortgeschritten.

Außer diesen führenden Individualitäten, die also in dieser Art gleichartig sind mit den übrigen Menschen, nur auf einer höheren Stufe stehen, gibt es auch im Verlaufe der Menschheitsentwickelung andere Individualitäten, andere Wesenheiten, die keineswegs ebenso durch verschiedene Verkörperungen hindurchgegangen sind wie die anderen Menschen. Wir können uns etwa veranschaulichen, was da zugrunde liegt, wenn wir uns sagen: Es hat Wesen gegeben zu eben der Zeit der lemurischen Entwickelung, die wir gerade in Betracht gezogen haben, welche es nicht mehr nötig hatten, so tief hinunterzusteigen in die physische Verkörperung wie die andern Menschen, wie alle die Wesen, die eben geschildert worden sind, Wesen also, welche in höheren, geistigeren Regionen ihre Entwickelung weiter hinauf hätten durchlaufen können, die es also zu ihrem eigenen weiteren Fortschreiten nicht nötig hatten, in fleischliche Leiber hinunterzusteigen.

Solch eine Wesenheit kann aber dennoch, um einzugreifen in den Gang der Menschheitsentwickelung, sozusagen stellvertretend

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heruntersteigen eben in einen solchen Leib, wie ihn die Menschen haben. So daß also zu irgendeiner Zeit eine Wesenheit auftreten kann, und wenn wir sie hellseherisch in bezug auf ihre Seele prüfen, können wir bei ihr nicht wie bei andern Menschen sagen, wir verfolgen sie in der Zeit zurück und finden sie in einer vorhergehenden fleischlichen Inkarnation, verfolgen sie weiter zurück und finden sie wieder in einer andern Inkarnation und so weiter, sondern wir mussen uns sagen: Verfolgen wir die Seele einer solchen Wesenheit im Zeitenlauf zurück, so kommen wir vielleicht gar nicht zu einer früheren fleischlichen Inkarnation einer solchen Wesenheit. Wenn wir aber zu einer solchen kommen, dann ist es nur aus dem Grunde, weil eine solche Wesenheit auch öfter in Zwischenräumen heruntersteigen und sich stellvertretend in einem menschlichen Leib verkörpern kann.

Solch eine geistige Wesenheit, die also heruntersteigt in einen menschlichen Leib, um als Mensch einzugreifen in die Entwickelung, ohne daß sie sozusagen selber etwas von dieser Verkörperung hat, ohne daß dasjenige, was sie hier erfährt in der Welt, für sie selbst diese oder jene Bedeutung hat, wird in der morgenländischen Weisheit «Avatar» genannt. Und das ist der Unterschied zwischen einer führenden Wesenheit, die aus der Menschheitsentwickelung selbst hervorgegangen ist, und einer solchen, die man Avatar nennt, daß eine Avatar-Wesenheit für sich keine Früchte zu ziehen hat aus ihren physischen Verkörperungen oder aus der einen physischen Verkörperung, der sie sich unterzieht, denn sie zieht als Wesenheit zum Heil und Fortschritt der Menschen in einen physischen Körper ein. Also wie gesagt: entweder nur einmal, oder auch mehrmals hintereinander kann eine solche Avatar-Wesenheit in einen menschlichen Leib einziehen, und sie ist durchaus dann etwas anderes als eine andere menschliche Individualität.

Die größte Avatar-Wesenheit, die auf der Erde gelebt hat, wie Sie ja aus dem Geiste aller der Vorträge, die hier gehalten werden, ent­nehmen können, ist der Christus, diejenige Wesenheit, die wir als den Christus bezeichnen und die im dreißigsten Jahre des Lebens des Jesus von Nazareth von dessen Körper Besitz ergriffen hat. Diese Wesenheit, die erst im Beginne unserer Zeitrechnung mit unserer Erde in

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Berührung gekommen ist, drei Jahre verkörpert war in einem fleischlichen Leib, seit jener Zeit mit der astralen Sphäre, also mit der geistigen Sphäre unserer übersinnlichen Welt in Verbindung steht, diese Wesenheit ist als avatarische Wesenheit von einer ganz einzigartigen Bedeutung. Wir würden die Christus-Wesenheit ganz vergeblich in einer früheren menschlichen Verkörperung auf der Erde suchen, während andere, niedrigere Avatar-Wesenheiten sich allerdings auch öfters verkörpern können. Der Unterschied liegt nicht darin, daß sie sich öfter verkörpern, sondern daß sie für sich selber aus den Erdenverkörperungen keine Früchte ziehen. Die Menschen geben nichts der Welt, sie nehmen nur. Diese Wesenheiten geben nur, sie nehmen nichts von der Erde. Nun müssen Sie allerdings, wenn Sie diese Sache ganz ordentlich verstehen wollen, unterscheiden zwischen einer so hohen Avatar-Wesenheit, wie es der Christus war, und zwischen niedrigeren Avatar-Wesenheiten.

Die verschiedensten Aufgaben können solche Avatar-Wesenheiten auf unserer Erde haben. Wir können zunächst von einer solchen Aufgabe avatarischer Wesenheiten sprechen. Und damit wir nicht im Spekulativen herumsprechen, wollen wir gleich an einen konkreten Fall herangehen und uns veranschaulichen, worinnen eine solche Aufgabe bestehen kann. Sie alle wissen aus der Erzählung, die sich um Noah herumgruppiert, daß in der althebräischen Darstellung ein großer Teil der nachatlantischen, der Nach-Noahschen Menschheit zurückgeführt wird auf die drei Stammväter Sem, Ham und Japhet. Heute wollen wir nicht weiter eingehen auf das, was uns in einer anderen Hinsicht Noah und diese drei Stammväter darstellen wollen. Wir wollen uns nur klarmachen, daß das hebräische Schrifttum, das von Sem, dem einen Sohne Noahs spricht, den ganzen Stamm der Semiten auf Sem als auf dessen Stammvater zurückführt. Einer wirklich okkulten Anschauung über eine solche Sache, einer solchen Erzählung, liegen überall die tieferen Wahrheiten dabei zugrunde. Diejenigen, welche aus dem Okkultismus heraus eine solche Sache erforschen können, wissen über diesen Sem, den Stammvater der Semiten, das Folgende.

Für eine solche Persönlichkeit, die der Stammvater eines ganzen

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Stammes werden soll, muß schon von der Geburt an, ja schon früher, vorgesorgt werden, daß sie eben dieser Stammvater sein kann. Wodurch wird nun vorgesorgt dafür, daß eine solche Individualität, wie hier zum Beispiel der Sem, der Stammvater einer solchen ganzen Volks- oder Stammesgemeinschaft sein kann? Bei Sem ist das dadurch geschehen, daß er sozusagen einen ganz besonders zugerichteten Ätherleib erhielt. Wir wissen ja, daß der Mensch dann, wenn er hineingeboren wird in diese Welt, herumgliedert um seine Individualität seinen Äther- oder Lebensleib neben den anderen Gliedern der menschlichen Wesenheit. Für einen solchen Stamm-Ahnen muß sozusagen ein besonderer Ätherleib zubereitet werden, welcher gleichsam der Muster-Ätherleib ist für alle die Nachkommen, die dieser Individualität in den Generationen folgen. So daß wir bei einer solchen Stammesindividualität einen typischen Ätherleib haben, gleichsam den Muster-Ätherleib; und dann geht durch die Blutsverwandtschaft die Sache durch die Generationen hindurch so, daß in einer gewissen Weise die Ätherleiber aller Nachkommen, die zu demselben Stamm gehören, Abbilder sind des Ätherleibes des Ahnen. So war in allen Ätherleibern des semitischen Volkes etwas wie ein Abbild des Ätherleibes des Sem eingewoben. Wodurch wird nun eine solche Sache herbeigeführt im Laufe der Menschheitsentwickelung?

Wenn wir uns diesen Sem genauer ansehen, so finden wir, daß sein Ätherleib dadurch seine urbildliche Gestalt erhalten hat, daß sich gerade in seinen Ätherleib ein Avatar eingewoben hat - wenn auch nicht ein so hoher Avatar, daß wir ihn mit gewissen anderen Avatar-­Wesenheiten vergleichen können; aber immerhin hatte sich eine hohe Avatar-Wesenheit heruntergesenkt in seinen Ätherleib, die allerdings mit dem astralischen Leib nicht verbunden gewesen ist und auch nicht mit dem Ich des Sem, aber sie hatte sich sozusagen eingewoben in den Ätherleib des Sem. Und wir können gerade gleich an diesem Beispiel studieren, was das für eine Bedeutung hat, wenn eine Avatar-Wesenheit an der Konstitution, an der Zusammensetzung des Menschen teilnimmt.

Was hat es denn überhaupt für einen Sinn, daß ein Mensch, der wie Sem eine solche Aufgabe hat, der Stammvater des ganzen Volkes zu sein, in seinen Leib sozusagen einverwoben erhält

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eine Avatar-Wesenheit? Es hat das den Sinn, daß jedesmal, wenn eine Avatar-Wesenheit einverwoben ist einem fleischlichen Menschen, irgendein Glied, oder auch mehrere Glieder dieser menschlichen Wesenheit sich vervielfältigen können, auseinandergesplittert werden können.

In der Tat war infolge der Tatsache, daß eine Avatar-Wesenheit dem Ätherleib des Sem einverwoben war, die Möglichkeit geboten, daß lauter Abbilder des Originals entstanden und diese unzähligen Abbilder einverwoben werden konnten all den Menschen, die in der Generationenfolge dem Stammvater nachfolgten. Also das Herabsteigen einer Avatar-Wesenheit hat unter anderem den Sinn, daß es zur Vervielfältigung eines oder mehrerer Glieder der betreffenden Wesenheit, die beseelt wird durch den Avatar, beiträgt. Lauter Ab­bilder des Originals entstehen, die alle darnach gebildet sind. Es war, wie Sie daraus sehen können, ein besonders wertvoller Ätherleib in diesem Sem vorhanden, ein urbildlicher Ätherleib, der durch einen hohen Avatar zubereitet und dann einverwoben worden ist dem Sem, so daß er dann in vielen Abbildern herabsteigen konnte zu all denen, die blutsverwandt sein sollten mit diesem Ahnen.

Nun haben wir ja schon in der eingangs erwähnten Stunde davon gesprochen, daß es auch eine spirituelle Ökonomie gibt, darin be­stehend, daß etwas, was besonders wertvoll ist, erhalten bleibt und hinübergetragen wird in die Zukunft. Wir haben gehört, daß nicht nur das Ich sich wiederverkörpert, sondern daß auch der astralische Leib und der Ätherleib sich wiederverkörpern können. Abgesehen davon, dass unzählige Abbilder des Ätherleibes des Sem entstanden, wurde auch wieder der eigene Ätherleib des Sem in der geistigen Welt aufbewahrt, denn dieser Ätherleib konnte später sehr gut gebraucht werden in der Mission des hebräischen Volkes. In diesem Ätherleib waren ja ursprünglich alle Eigentümlichkeiten des hebräischen Volkes zum Ausdruck gekommen. Sollte einmal etwas ganz besonders Wichtiges geschehen für das alte hebräische Volk, sollte jemandem eine besondere Aufgabe, eine besondere Mission übertragen werden, dann konnte das am besten von einer Individualität geschehen, die in sich diesen Ätherleib des Stammvaters trug.

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Tatsächlich trug später eine in die Geschichte des hebräischen Volkes eingreifende Individualität den Ätherleib des Stammvaters. Hier haben wir in der Tat eine jener wunderbaren Komplikationen im Menschheitswerden, die uns soviel erklären können. Wir haben es zu tun mit einer sehr hohen Individualität, die sich sozusagen herablassen mußte, um zum hebräischen Volke in einer entsprechenden Weise zu reden und ihm die Kraft zu einer besonderen Mission zu geben, etwa so, wie wenn ein geistig besonders hervorragender Mensch zu einem niedrigen Volksstamm sprechen müßte, er ja die Sprache dieses Volksstammes lernen müßte, aber man deshalb nicht behaupten muß, daß die Sprache irgend etwas ist, was ihn selbst höher bringt; der Betreffende muß nur in diese Sprache sich hineinbequemen. So mußte sich eine hohe Individualität hineinbequemen in den Ätherleib des Sem selber, um einen ganz bestimmten Impuls dem althebräischen Volke geben zu können.

Diese Individualität, diese Persönlichkeit ist dieselbe, die Sie unter dem Namen Melchisedek in der biblischen Geschichte finden. Das ist die Individualität, die sozusagen den Ätherleib des Sem sich anzog, um dann den Impuls an Abraham zu geben, den Sie dann so schön in der Bibel geschildert finden. Also abgesehen davon, daß das, was in der Individualität des Sem enthalten war, sich vervielfältigte dadurch, daß eine Avatar-Wesenheit darinnen verkörpert war und dann einverwoben wurde all den andern Ätherleibern der Angehörigen des hebräischen Volkes, wurde der eigene Ätherleib des Sem in der geistigen Welt aufbewahrt, damit ihn später Melchisedek tragen konnte, der dem hebräischen Volke durch Abraham einen wichtigen Impuls geben sollte.

So fein verwoben sind die Tatsachen, die hinter der physischen Welt sind und die uns das erst erklärlich machen, was in der physischen Welt vorgeht. Wir lernen die Geschichte erst dadurch kennen, daß wir auf solche Tatsachen hinweisen können: auf Tatsachen geistiger Art, die hinter den physischen Tatsachen stehen. Niemals kann die Geschichte aus sich selber erklärlich werden, wenn wir nur bei den physischen Tatsachen stehenbleiben.

Von einer ganz besonderen Wichtigkeit wird das, was wir jetzt erörtert haben: daß durch das Herabsteigen einer Avatar-Wesenheit.

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die Wesensglieder desjenigen Menschen, der Träger einer solchen Avatar-Wesenheit ist, vervielfältigt werden und auf andere übertragen werden, in Abbildern des Urbildes erscheinen, von einer ganz besonderen Wichtigkeit wird das durch die Erscheinung des Christus auf der Erde.

Dadurch, daß die Avatar-Wesenheit des Christus in dem Leib des Jesus von Nazareth wohnte, war die Möglichkeit gegeben, daß sowohl der Ätherleib des Jesus von Nazareth unzählige Male vervielfältigt wurde als auch der astralische Leib und sogar auch das Ich - das Ich als ein Impuls, wie er dazumal in dem astralischen Leib angefacht worden ist, als in die dreifache Hülle des Jesus von Nazareth der Christus einzog. Doch zunächst wollen wir darauf Rücksicht nehmen, daß durch die Avatar-Wesenheit vervielfältigt werden konnte der Ätherleib und der astralische Leib des Jesus von Nazareth.

Nun tritt in der Menschheit einer der bedeutsamsten Einschnitte auf, gerade durch das Erscheinen des Christus-Prinzips in der Erdenentwickelung. Was ich Ihnen von Sem erzählt habe, das ist im Grunde genommen typisch und charakteristisch für die vorchristliche Zeit. Wenn in dieser Weise ein Ätherleib oder auch ein astralischer Leib vervielfältigt wird, so werden die Abbilder desselben in der Regel auf solche Leute übergehen, die blutsverwandt sind mit dem, der das Urbild hatte: auf die Angehörigen des hebräischen Stammes wurden daher die Abbilder des Sem-Ätherleibes übertragen.

Das wurde anders durch das Erscheinen der Christus-Avatar-Wesenheit. Der Ätherleib und der astralische Leib des Jesus von Nazareth wurden vervielfältigt und als solche Vervielfältigungen nun aufgehoben, bis sie im Verlaufe der Menschheitsentwickelung gebraucht werden konnten. Aber sie waren nicht gebunden an diese oder jene Nationalität, an diesen oder jenen Stamm, sondern, wo sich in der Folgezeit ein Mensch fand, gleichgültig welche Nationalität er trug, der reif war, geeignet dazu war, in seinem eigenen astralischen Leib ein astralisches Abbild des Astralleibes des Jesus von Nazareth einverwoben zu erhalten, oder ein ätherisches Abbild des Ätherleibes des Jesus von Nazareth, dem konnten diese einverwoben werden. So sehen wir, wie die Möglichkeit gegeben war, daß in der Folgezeit, sagen wir, allerlei Leuten wie

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Abdrücke einverwoben wurden die Abbilder des astralischen Leibes oder des Ätherleibes des Jesus von Nazareth.

Mit dieser Tatsache hängt die intime Geschichte der christlichen Entwickelung zusammen. Was gewöhnlich als Geschichte der christ­lichen Entwickelung geschildert wird, ist eine Summe von ganz äußeren Vorgängen. Und daher wird auf das Hauptsächlichste, nämlich auf die Scheidung in bezug auf wirkliche Perioden in der christlichen Entwickelung, viel zu wenig Rücksicht genommen.

Wer tiefer in den Entwickelungsgang des Christentums Einblick halten kann, der wird leicht erkennen, daß in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit die Art, wie das Christentum verbreitet wurde, eine ganz andere war als in den späteren Jahrhunderten. In den ersten christlichen Jahrhunderten war sozusagen die Verbreitung des Christentums gebunden an alles das, was man vom physischen Plan her erringen konnte. Wir brauchen nur bei den ersten Lehrern des Christentums Umschau zu halten, und wir werden sehen, wie da die physischen Erinnerungen, die physischen Zusammenhänge und alles, was physisch geblieben war, betont wird. Denken Sie nur daran, wie Irenäus der in dem ersten Jahrhundert viel beigetragen hat zur Verbreitung der christlichen Lehre in den verschiedenen Ländern, gerade einen großen Wert darauf legt, daß Erinnerungen zurückreichen zu solchen, die noch selber die Apostelschüler gehört haben. Man legte großen Wert darauf, durch solche physischen Erinnerungen bewahrheiten zu können, daß der Christus in Palästina selber gelehrt hatte. Da wird zum Beispiel besonders betont, daß Papias selber gesessen hat zu den Füßen der Apostelschüler. Es werden sogar die Orte gezeigt und beschrieben, wo solche Persönlichkeiten gesessen haben, die noch als Augenzeugen dafür da waren, daß Christus in Palästina gelebt hat. Der physische Fortschritt in der Erinnerung ist das, was besonders betont wird in den ersten Jahrhunderten des Christentums.

Wie sehr alles, was physisch geblieben ist, hervorgehoben wird, das sehen Sie an den Worten des alten Augustinus, der am Ende dieser Zeit steht und der da sagt: Warum glaube ich denn an die Wahrheiten des Christentums? Weil die Autorität der katholischen Kirche mich

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dazu zwingt. - Ihm ist die physische Autorität, daß etwas da ist in der physischen Welt, das Wichtige und Wesentliche, daß sich eine Körperschaft erhalten hat, welche, Persönlichkeit an Persönlichkeit knüpfend, hinaufreicht bis zu dem, der ein Genosse des Christus war wie Petrus. Das ist für ihn das Maßgebende. Wir können also sehen: die Dokumente, die Eindrücke des physischen Planes sind es, auf welche in den ersten Jahrhunderten der christlichen Verbreitung der größte Wert gelegt wird.

Das wird nunmehr nach der Zeit des Augustinus bis etwa in das 10., 11., 12. Jahrhundert hinein anders. Da ist es nicht mehr möglich, sich auf die lebendige Erinnerung zu berufen, nur die Dokumente des physischen Planes heranzuziehen, denn sie liegen zu weit zurück. Da ist auch in der ganzen Stimmung, in der Gesinnung der Menschen, die nunmehr das Christentum annahmen - und besonders ist das gerade bei den europäischen Völkern der Fall -, etwas ganz anderes vorhanden. In dieser Zeit ist in der Tat etwas da wie eine Art unmittelbares Wissen, daß ein Christus existiert, daß ein Christus gestorben ist am Kreuz, daß er fortlebt. Es gab in der Zeit vom 4., 5. Jahrhundert bis zum 10., 12. Jahrhundert eine große Anzahl von Menschen, denen gegenüber es höchst töricht erschienen wäre, wenn man ihnen gesagt hätte, man könne an den Ereignissen von Palästina auch zweifeln, denn sie wußten es besser. Besonders über europäische Länder waren diese Menschen verbreitet. Sie hatten in sich selber immer erleben können etwas, was eine Art Paulus-Offenbarung im kleinen war, was Paulus, der bis dahin ein Saulus war, auf dem Wege nach Damaskus erfahren hat, und wodurch er ein Paulus wurde.

Wodurch hat in diesen Jahrhunderten eine Anzahl von Menschen solche, in einer gewissen Beziehung hellseherischen Offenbarungen über die Ereignisse von Palästina erhalten können? Das war dadurch möglich, daß in diesen Jahrhunderten die Abbilder des vervielfältigten Ätherleibes des Jesus von Nazareth, die aufbewahrt worden waren, einer großen Anzahl von Menschen einverwoben worden sind, daß sie diese sozusagen anziehen durften. Ihr Ätherleib bestand nicht ausschließlich aus diesem Abbild des Ätherleibes des Jesus, aber es war ihrem Ätherleib einverwoben ein Abbild des ursprünglichen Originals

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des Jesus von Nazareth. Menschen, die in sich einen solchen Ätherleib haben konnten und die dadurch unmittelbar ein Wissen haben konnten von dem Jesus von Nazareth und auch von dem Christus, solche Menschen gab es in diesen Jahrhunderten.

Dadurch wurde aber auch das Christus-Bild losgelöst von der äußerlich historischen, physischen Überlieferung. Und am meisten losgelöst erscheint es uns in jener wunderbaren Dichtung des 9. Jahrhunderts, die bekannt ist als die Heliand-Dichtung, die aus der Zeit Ludwigs des Frommen stammt, der von 814 bis 840 regiert hat, und die von einem äußerlich schlichten Manne des Sachsenlandes niedergeschrieben worden war. In bezug auf seinen astralischen Leib und sein Ich konnte er gar nicht heranreichen an das, was in seinem Ätherleibe war. Denn seinem Ätherleib war einverwoben ein Abbild des Ätherleibes des Jesus von Nazareth. Dieser schlichte sächsische Seelsorger, der diese Dichtung geschrieben hat, hatte aus unmittelbarer hellseherischer Anschauung die Gewißheit: der Christus ist vorhanden auf dem astralischen Plan, und der ist derselbe, der auf Golgatha gekreuzigt worden ist!

Und weil das für ihn eine unmittelbare Gewißheit war, brauchte er sich nicht mehr an die historischen Dokumente zu halten. Er brauchte nicht mehr die physische Vermittlung, daß der Christus da war. Er schildert ihn daher auch losgelöst von der ganzen Szenerie in Palästina, losgelöst von dem Eigentümlichen des Jüdischen. Er schildert ihn etwa so wie einen Anführer eines mitteleuropäischen oder germanischen Stammes, und diejenigen, die als seine Bekenner, als die Apostel um ihn herum sind, beschreibt er so etwa wie die Dienstmannen eines germanischen Fürsten. Alle äußere Szenerie ist verändert, nur das, was das eigentlich Wesentliche, das Ewige an der Christus-Gestalt ist, was die Struktur der Ereignisse ist, das ist geblieben. Er also, der ein solches unmittelbares Wissen hatte, das sich auf solchen wichtigen Grund aufbaute wie auf den Abdruck des Ätherleibes des Jesus von Nazareth, er war nicht angewiesen, da wo er von Christus sprach, sich ganz hart an die unmittelbaren historischen Ereignisse zu halten. Er umkleidete das, was er als ein unmittelbares Wissen hatte, mit einer anderen äußeren Szenerie.

Und so wie wir in diesem Schreiber der Heliand-Dichtung eine der merkwürdigen Persönlichkeiten

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haben schildern können, der einverwoben hatte in seinem Ätherleib ein Abbild des Ätherleibes des Jesus von Nazareth, so könnten wir andere Persönlichkeiten in dieser Zeit finden, die ein Gleiches hatten. So sehen wir, wie hinter den physischen Ereignissen das Allerwichtigste vorgeht, was uns in intimer Weise die Geschichte erklären kann.

Wenn wir nun weiter die christliche Entwickelung verfolgen, so kommen wir etwa ins 11., 12. bis 15. Jahrhundert hinauf. Da war nun wiederum ein ganz anderes Geheimnis, welches nun die ganze Entwickelung weiter trug. Erst war es sozusagen die Erinnerung an das, was auf dem physischen Plan war, dann war es das Ätherische, das unmittelbar sich hineinverwob in die Ätherleiber der Träger des Christentums in Mitteleuropa. In den späteren Jahrhunderten, vom 12. bis 15. Jahrhundert, da war es besonders der astralische Leib des Jesus von Nazareth, der in zahlreichen Abbildern einverwoben wurde den astralischen Leibern der wichtigsten Träger des Christentums. Solche Menschen hatten dann ein Ich, das sich als Ich sehr falsche Vorstellungen machen konnte von allem möglichen, aber in ihren astralischen Leibern lebte ein Unmittelbares an Kraft, an Hingebung, eine unmittelbare Gewißheit der heiligen Wahrheiten. Tiefe Inbrunst, ganz unmittelbare Überzeugung, und unter Umständen auch die Fähigkeit, diese Überzeugung zu begründen, lag in solchen Menschen. Was uns manchmal gerade bei diesen Persönlichkeiten so sonderbar anmuten muß, das ist, daß sie in ihrem Ich oft gar nicht gewachsen waren dem, was ihr astralischer Leib enthielt, weil er einverwoben hatte ein Abbild des astralischen Leibes des Jesus von Nazareth. Grotesk erschien manchmal das, was ihr Ich tat, großartig und erhaben aber die Welt ihrer Stimmungen und Gefühle, ihrer Inbrunst. Eine solche Persönlichkeit zum Beispiel ist Franz von Assisi. Und gerade wenn wir Franz von Assisi studieren und nicht verstehen können als heutige Menschen sein bewußtes Ich und dennoch die allertiefste Verehrung haben müssen für seine ganze Gefühlswelt, für alles, was er getan hat, so wird das erklärlich unter einem solchen Gesichtspunkt. Er war einer derjenigen, die einverwoben hatten ein Abbild des astralischen Leibes des Jesus von Nazareth. Dadurch war er imstande, gerade das zu

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vollbringen, was er gerade vollbracht hat. Und zahlreiche seiner Anhänger aus dem Orden der Franziskaner mit seinen Dienern und Minoriten hatten in ähnlicher Weise solche Abbilder in ihrem astralischen Leib einverwoben.

Gerade alle die merkwürdigen, sonst rätselhaften Erscheinungen aus jener Zeit werden Ihnen lichtvoll und klar werden, wenn Sie dieses Vermitteln im Weltenwerden zwischen Vergangenheit und Zukunft sich ordentlich vor das Auge der Seele führen. Da kam es nun darauf an, ob diesen Leuten des Mittelalters vom astralischen Leibe des Jesus von Nazareth mehr einverwoben war dasjenige, was wir Empfindungsseele nennen oder mehr die Verstandesseele oder das, was wir Bewußtseinsseele nennen. Denn der astralische Leib des Menschen muß ja in gewisser Beziehung als diese in sich enthaltend gedacht werden, als das Ich umschließend. Ganz sozusagen Empfindungsseele des Jesus von Nazareth war alles in Franz von Assisi. Ganz Empfindungsseele des Jesus von Nazareth war alles in jener wunderbaren Persönlichkeit, die Sie mit der ganzen Seele biographisch verfolgen werden, wenn Sie das Geheimnis ihres Lebens kennen: in der Elisabeth von Thüringen, 1207 geboren. Da haben wir eine solche Persönlichkeit, die einverwoben hatte in die Empfindungsseele ein Abbild des astralischen Leibes des Jesus von Nazareth. Das Rätsel der Menschengestalt wird uns gerade durch solch ein Wissen gelöst.

Und vor allen Dingen wird Ihnen eine Erscheinung klar werden, wenn Sie wissen, daß in dieser Zeit die mannigfaltigsten Persönlich­keiten Empfindungsseele, Verstandesseele oder Bewußtseinsseele als Abbilder aus dem astralischen Leib des Jesus von Nazareth in sich einverwoben hatten: Es wird Ihnen verständlich werden jene Wissenschaft, die sonst heute so wenig verstanden und so viel verlästert wird, die man gewöhnlich als die Scholastik bezeichnet. Was hatte sich denn die Scholastik für eine Aufgabe gestellt? Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, aus Urteilsgründen heraus, aus dem Intellekt heraus Belege, Beweise zu finden für das, woran man keine historische Anknüpfung, keine physische Vermittlung hatte und wofür man auch keine unmittelbare hellseherische Gewißheit hatte, wie es in den vorherigen Jahrhunderten war durch den einverwobenen Ätherleib des

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Jesus von Nazareth.

Diese Leute mußten sich so die Aufgabe stellen, daß sie sich sagten: Es ist uns durch Überlieferung mitgeteilt worden, daß in der Geschichte aufgetreten ist jene Wesenheit, die als der Christus Jesus bekannt ist, daß eingegriffen haben in die Menschheitsentwickelung andere geistige Wesenheiten, von denen uns die religiösen Urkunden zeugen.

Aus ihrer Verstandesseele heraus, aus dem Intellekt des Abbildes des Jesus-von-Nazareth-Astralleibes stellten sie sich die Aufgabe, mit feinen und scharf ausgebauten Begriffen alles das zu beweisen, was in ihren Schriften als Mysterien-Wahrheiten da war. So entstand jene merkwürdige Wissenschaft, die das größte an Scharfsinn, an Intellekt zu leisten versucht hat, was überhaupt wohl in der Menschheit geleistet worden ist. Durch mehrere Jahrhunderte hindurch - man möge über den Inhalt der Scholastik denken, wie man will - wurde einfach dadurch, daß diese feine, feine Begriffsunterscheidung und Begriffskonturierung getrieben wurde, die Fähigkeit des menschlichen Nachdenkens gepflegt und der Zeitkultur eingeprägt. Es war ja im 13. bis 15. Jahrhundert, daß die Menschheit durch die Scholastik eingeprägt erhalten hat die Fähigkeit, scharfsinnig, eindringend logisch zu denken.

Bei denen, welchen wiederum mehr eingeprägt war die Bewußtseinsseele, beziehungsweise das Abbild, das sich als Bewußtseinsseele des Jesus von Nazareth auslebt, trat auf - weil in der Bewußtseinsseele das Ich sitzt - die besondere Erkenntnis, daß im Ich der Christus gefunden werden kann. Und weil sie selber das Element der Bewußtseinsseele aus dem astralischen Leib des Jesus von Nazareth in sich hatten, leuchtete in ihrem Innern ihnen der innere Christus auf. Und durch diesen Astralleib erkannten sie, daß der Christus in ihrem Innern der Christus selber war. Das waren die, die Sie kennen als Meister Eckhart, Johannes Tauler und die ganzen Träger der mittelalterlichen Mystik.

So sehen Sie, wie die verschiedensten Phasen des astralischen Leibes, die dadurch vervielfältigt wurden, daß die hohe Avatar-Wesen­heit des Christus eingezogen war in den Leib des Jesus von Nazareth, weiter wirkten in der folgenden Zeit und die eigentliche Ent­wickelung des Christentums bewirkten. Es ist übrigens auch sonst ein

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wichtiger Übergang. Wir sehen, wie die Menschheit in ihrer Entwickelung auch sonst darauf angewiesen ist, diese Stücke der Jesus-­von-Nazareth-Wesenheit in sich einverleibt zu erhalten. In den ersten Jahrhunderten waren Menschen da, die ganz auf den physischen Plan angewiesen waren; dann kamen Menschen in den folgenden Jahrhunderten, die zugänglich waren in ihrem Ätherleib eingewoben zu erhalten das Element des Ätherleibes des Jesus von Nazareth. Später waren die Menschen sozusagen mehr hingeordnet auf den astralischen Leib; daher konnte ihnen jetzt auch das Abbild des astralischen Leibes des Jesus von Nazareth einverleibt werden. Der astralische Leib ist der Träger der Urteilskraft. Die Urteilskraft erwacht ganz besonders im 12. bis 14. Jahrhundert. Das könnten Sie auch noch aus einer anderen Erscheinung ersehen.

Bis zu dieser Zeit war es ganz besonders klar, welche Mysterientiefen das Abendmahl enthielt. Das Abendmahl wurde so hingenom­men - höchstens im kleinen wurde darüber diskutiert -, daß man selbst alles das zu empfinden verstand, was in den Worten lag: «Dies ist mein Leib und dies ist mein Blut...», weil der Christus darauf hinwies, daß er vereinigt sein werde mit der Erde, der planetarische Geist der Erde sein werde. Und weil das Kostbarste aus der physischen Erde das Mehl ist, deshalb wurde dem Menschen das Mehl zum Leibe des Christus, und der Saft, der durch die Pflanzen, durch die Reben geht, wurde ihnen etwas von dem Blute des Christus. Durch dieses Wissen wurde der Wert des Abendmahls nicht verringert, sondern im Gegenteil erhöht. Etwas von diesen unendlichen Tiefen fühlte man in diesen Jahrhunderten, bis dann die Urteilskraft im astralischen Leib erwachte. Von da ab erwacht auch erst der Zweifel. Von da ab begann auch erst der Streit über das Abendmahl. Denken Sie einmal darüber nach, wie im Hussitismus, wie im Luthertum und seinen Spaltungen des Zwinglianismus und Calvinismus diskutiert wird, was das Abendmahl sein soli! Solche Diskussionen wären früher nicht möglich gewesen, weil man da noch ein unmittelbares Wissen von dem Abendmahl hatte.

Aber da sehen wir bewahrheitet ein großes historisches Gesetz, das besonders für Geisteswissenschafter wichtig sein sollte: Solange die Leute wußten, was das Abendmahl war, hatten sie nicht

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diskutiert; erst als sie verloren hatten das unmittelbare Wissen vom Abendmahl, fingen sie zu diskutieren an. Betrachten Sie es überhaupt als ein Anzeichen, daß man irgendeine Sache eigentlich nicht weiß, wenn man über diese Sache zu diskutieren anfängt. Wo Wissen ist, wird das Wissen erzählt, und da ist eigentlich keine besondere Lust am Diskutieren vorhanden. Wo Lust am Diskutieren ist, da ist in der Regel kein Wissen von der Wahrheit. Die Diskussion beginnt erst mit dem Nichtwissen, und es ist stets und überall ein Zeichen des Verfalls in bezug auf den Ernst einer Sache, wenn Diskussionen beginnen. Auflösung der betreffenden Strömung kündigt sich immer mit Diskussionen an. Das ist sehr wichtig, daß man das auf geisteswissenschaftlichem Felde immer wieder und wieder begreifen lernt, daß der Wille zum Diskutieren eigentlich als ein Zeichen der Unwissenheit aufgefaßt werden darf; dagegen sollte dasjenige, was dem Diskutieren gegenübersteht, der Wille zum Lernen, der Wille, nach und nach einzusehen, um was es sich handelt, gepflegt werden.

Hier sehen wir eine große historische Tatsache an der Entwickelung des Christentums selber bewahrheitet. Wir können aber noch etwas anderes lernen, wenn wir sehen, wie in diesen charakterisierten Jahrhunderten des Christentums die Urteilskraft - das, was im astralischen Leibe ist -, diese scharfe intellektuelle Weisheit ausgestaltet wird. Allerdings wenn wir Realitäten, nicht Dogmen, ins Auge fassen, dann können wir daran lernen, was das Christentum im Fortschreiten überhaupt alles getan hat. Was ist denn aus der Scholastik geworden, wenn wir sie nicht ihrem Inhalt nach auffassen, sondern wenn wir sie als Heranzüchtung, Heranerziehung von Fähigkeiten ins Auge fassen? Wissen Sie, was daraus geworden ist? Die moderne Naturwissenschaft ist daraus geworden! Die moderne Naturwissenschaft ist gar nicht denkbar ohne die Realität einer christlichen Wissenschaft des Mittelalters. Nicht nur daß Kopernikus ein Domherr war, daß Gioroano Bruno ein Dominikaner war, sondern alle die Gedankenformen, mit denen man seit dem 15., 16. Jahrhundert über die Naturobjekte sich hermachte, sind nichts anderes als das, was heranerzogen, herangezüchtet worden ist vom 11. bis 16. Jahrhundert durch die christliche Wissenschaft des Mittelalters. Diejenigen leben nicht in der

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Realität, sondern in Abstraktionen, die da nachschlagen in den Büchern der Scholastik, das mit der neueren Naturwissenschaft verglei­chen und dann sagen: Haeckel und so weiter behaupten etwas ganz anderes. Auf Realitäten kommt es an! Ein Haeckel, ein Darwin, ein Du Bois-Reymond, ein Huxley und andere wären alle unmöglich, wenn nicht die christliche Wissenschaft des Mittelalters vorangegangen wäre. Denn daß sie so denken können, das verdanken sie der christlichen Wissenschaft des Mittelalters. Das ist die Realität. Daran hat die Menschheit denken gelernt im wahren Sinne des Wortes.

Die Sache geht noch weitet. Lesen Sie David Friedrich Strauß. Versuchen Sie zu schauen auf die Art und Weise, wie er denkt. Versuchen Sie seine Gedankengebilde sich klarzulegen: wie er darstellen will, daß das ganze Leben des Jesus von Nazareth ein Mythos ist. Wissen Sie, woher er die Gedankenschärfe hat? Er hat sie aus der christlichen Wissenschaft des Mittelalters. Alles das, womit man heute das Christentum so radikal bekämpft, das ist gelernt an der christlichen Wissenschaft des Mittelalters. Es könnte heute eigentlich gar keinen Gegner des Christentums geben, bei dem man nicht leicht nachweisen könnte, daß er gar nicht so denken könnte, wie er denkt, wenn er die Gedankenformen nicht gelernt hätte an der christlichen Wissenschaft des Mittelalters. Das hieße allerdings die Weltgeschichte real betrachten.

Und was ist denn seit dem 16. Jahrhundert geschehen? Seit dem 16. Jahrhundert ist immer mehr und mehr das Ich selber zur Geltung gekommen, damit auch der menschliche Egoismus und damit der Materialismus. Man hat verlernt und vergessen, was das Ich alles an Inhalt aufgenommen hat: man mußte sich daher beschränken auf das, was das Ich beobachten kann, was das Instrument der Sinnlichkeit dem gewöhnlichen Verstande geben kann, und nur das konnte es in die innerliche Wohnstätte nehmen. Eine Kultur der Egoität ist die Kultur seit dem 16. Jahrhundert. Was muß nun in dieses Ich hineinkommen? Die christliche Entwickelung hat durchgemacht eine Entwickelung in dem äußeren physischen Leib, eine Entwickelung im Ätherleib, eine solche im astralischen Leib, und bis zum Ich ist sie hinaufgedrungen. Jetzt muß sie in dieses Ich aufnehmen die Mysterien

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und Geheimnisse des Christentums selber. Jetzt muß es möglich sein, das Ich zum Christus-empfänglichen Organ zu machen, nachdem eine Weile das Ich das Denken gelernt hat durch das Christentum und die Gedanken angewendet hat auf die Außenwelt. Jetzt muß dieses Ich wiederum die Weisheit finden, welche die Urweisheit des großen Avatars, des Christus selber ist.

Und wodurch muß das geschehen? Durch die geisteswissenschaftliche Vertiefung des Christentums. Sorgsam vorbereitet durch die drei Stufen der physischen, der ätherischen und der astralischen Entwickelung, würde es jetzt darauf ankommen, daß im Innern das Organ sich dem Menschen erschließe, um nunmehr in seine geistige Umwelt zu schauen mit jenem Auge, das ihm der Christus öffnen kann. Als die größte Avatar-Wesenheit ist der Christus auf die Erde herabgestiegen. Stellen wir uns auf diese Perspektive ein: versuchen wir so die Welt anzuschauen, wie wir die Welt anschauen können, wenn wir den Christus in uns aufgenommen haben. Dann finden wir unsern ganzen Weltenwerdegang durchglüht und durchflutet von der Christus-Wesenheit. Das heißt, wir schildern, wie nach und nach entstanden ist auf dem Saturn der physische Leib des Menschen, wie auf der Sonne der Ätherleib hinzutrat, auf dem Mond der astralische Leib und auf der Erde dann das Ich dazugekommen ist, und wir finden, wie das alles zu dem Ziel hinstrebt, immer selbständiger und individuelier zu werden, um jene Weisheit, die von der Sonne zur Erde übergeht, der Erdenentwickelung einzuverleiben. Sozusagen zu dem perspektivischen Mittelpunkt der Weltenbetrachtung muß für das frei gewordene Ich der neueren Zeit der Christus und das Christentum werden.

So sehen Sie, wie das Christentum sich nach und nach vorbereitet hat zu dem, was es werden soll. Mit seiner physischen Erkenntnisfähigkeit hat in den ersten Jahrhunderten der Christ das Christentum aufgenommen, dann später mit seiner ätherischen Erkenntnisfähigkeit und mit seiner astralischen Erkenntnisfähigkeit durch das Mittelalter hindurch. Dann wurde das Christentum in seiner wahren Gestalt eine Weile zurückgedrängt, bis das Ich durch die drei Leiber im Werdegang der nachchristlichen Entwickelung erzogen worden ist. Aber nachdem dieses Ich denken und den Blick in die objektive Welt hinauszurichten

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gelernt hat, ist es jetzt auch reif, in dieser objektiven Welt in allen Erscheinungen das zu schauen, was an geistigen Tatsachen mit der Mittelpunktswesenheit, mit der Christus-Wesenheit so innig verknüpft ist: den Christus in den mannigfaltigsten Gestalten allüberall als die Grundlage zu schauen.

Damit stehen wir am Ausgangspunkte eben des geisteswissenschaftlichen Begreifens und Erkennens des Christentums, und wir erkennen, welche Aufgabe, welche Mission dieser Bewegung für Geist-Erkenntnis zugeteilt ist. Da erkennen wir zugleich die Realität dieser Mission. So wie der einzelne Mensch physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich hat und nach und nach hinaufsteigt zu immer höheren Höhen, so ist es auch im geschichtlichen Werdegang des Christentums. Man möchte sagen: auch das Christentum hat einen physischen Leib, einen Ätherleib, einen Astralleib und ein Ich, ein Ich, das sogar seinen Ursprung verleugnen kann wie in unserer Zeit, wie überhaupt das Ich egoistisch werden kann, aber doch ein Ich, das zu gleicher Zeit auch die wahre Christus-Wesenheit in sich aufnehmen und zu immer höheren Stufen des Daseins aufsteigen kann. - Was der Mensch im einzelnen ist, das ist die große Welt sowohl in ihrer Gesamtheit als im Verlauf ihres geschichtlichen Werdens.

Wenn wir die Sache so betrachten, eröffnet sich uns vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus eine weite Zukunftsperspektive. Und wir wissen, wie diese unser Herz ergreifen und mit Enthusiasmus erfüllen kann. Wir begreifen immer mehr und mehr, was wir zu tun haben, und wir wissen auch, daß wir nicht im dunkeln tappen. Denn wir haben uns keine Ideen ausgeheckt, die wir willkürlich in die Zukunft hineinstellen wollen, sondern diejenigen Ideen wollen wir haben und ihnen allein folgen, die nach und nach durch die Jahr­hunderte der christlichen Entwickelung vorbereitet worden sind. So wahr es ist, daß das Ich erst erscheinen und nach und nach hinaufentwickelt werden muß zum Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmenschen, nachdem der physische Leib, der Ätherleib und astralische Leib zuerst vorhanden waren, so wahr konnte sich der moderne Mensch mit seiner Ich-Gestalt, mit seinem heutigen Denken nur entwickeln aus der astralischen, der ätherischen und der physischen

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Gestalt des Christentums heraus. Ich ist das Christentum geworden.

So wahr, wie das die Entwickelung aus der Vergangenheit war, so wahr ist es, daß die Ich-Gestalt der Menschheit erst in Erscheinung treten kann, nachdem die astralische und ätherische Gestalt des Christentums entwickelt worden ist. Das Christentum wird sich in die Zukunft fortentwickeln, es wird noch ganz andere Dinge der Menschheit darbieten, und die christliche Entwickelung und die christliche Lebenshaltung werden in neuer Gestalt erstehen: es wird der umgewandelte astralische Leib erscheinen als das christliche Geistselbst, der umgewandelte Ätherleib als der christliche Lebensgeist. Und in einer leuchtenden Zukunftsperspektive des Christentums glänzt vor unserer Seele auf als der Stern, dem wir zuleben, der Geistesmensch, ganz durchleuchtet und durchglüht von dem Geiste des Christentums.