Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 152 Vorstufen zum Mysterium von Golgatha

Der Michael-Impuls und das Mysterium von Golgatha (2) Stuttgart, 20. Mai 1913

Der Michael-Impuls und das Mysterium von Golgatha (2)

Wir haben uns bemüht, das ein wenig zu beleuchten, was aus der Welt-gesetzmäßigkeit heraus der Charakter unseres gegenwärtigen Zeitalters ist, und wir sollten nicht vorübergehen an einer solchen Charakteristik unseres Zeitalters. Denn wenn wir reden von den geistigen Kräften, von den geistigen Impulsen eines Zeitalters, so sind das diejenigen Kräfte, diejenigen Impulse, welche in jeder einzelnen unserer Seelen drinnen wirken. Und wir können nicht mit unseren Seelen zurechtkommen, wenn wir uns nicht zu stellen vermögen zu diesen Kräften, zu diesen Impulsen unseres Zeitalters, die nun einmal zugleich die geistigen Kräfte und Impulse unserer eigenen Seele sind.

Es ist durchaus wahr, daß - wie sich auch der einzelne unter Ihnen zurechtlegt, warum er dieses oder jenes in der Geisteswissenschaft glaubt - in den Seelen derjenigen, welche aufrichtig und ehrlich zur Geisteswissenschaft kommen, vielleicht unbewußt das Gefühl, der Trieb lebt, der da kommt von den echten, wahren spirltuellen Impulsen unserer Zeit. Ich habe Ihnen vorgestern zu charakterisieren versucht, daß wir gegenwärtig leben in dem, was man das Michael-Zeitalter nennen kann. Das Verständnis für spirituelle Dinge wird immer mehr und mehr Seelen möglich werden. Während die letzten Jahrhunderte so abliefen, daß vor allen Dingen Verständnis möglich wurde für Dinge des äußeren Naturwissens, für physikalische, chemische, physiolo­gische Gesetze, für alles, was sich auf den äußeren Raum und die Zeit bezieht, während in dem Gabriel-Zeitalter in den Seelen Verständnis erweckt wurde für das, was in den Naturwissenschaften von Triumph zu Triumph zog und die Seele hinneigte zum naturwissenschaftlichen Verständnis der Welt, gehen wir einem Zeitalter entgegen, wo es ebenso möglich sein wird, das Spirituelle zu verstehen.

Noch niemals eigentlich in der Entwickelung der Menschheit waren zwei aufeinanderfolgende Zeitalter so radikal verschieden, wie das

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eben abgelaufene und das, in das wir hineingehen. Und fremder sein als jemals werden die Seelen, die zum Spirituellen neigen, den Seelen, die noch festhalten an dem, was die vergangenen Jahrhunderte brachten. Und nicht lange wird es dauern, daß diejenigen, welche auf dem Boden des materialistischen Monismus zu stehen glauben, vollständig unzeitgemäß sein werden gegenüber jenen Seelen, die mit Sehnsucht suchen werden nach einem Verständnis der übersinnlichen Welten. Denn seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hat sich eine geistige Flutwelle aus den höheren Welten in unsere Welt hinein eröffnet, und deshalb ist es möglich geworden, Verständnis zu erhalten für das, was spirituell die menschliche und Weltenevolution leitet.

Vor nahezu zwei Jahrtausenden geschah ja das Ereignis, das Ihnen allen bekannt ist unter dem Namen des Mysteriums von Golgatha, und oftmals ist auch hier darüber gesprochen und von den verschiedensten Seiten her beleuchtet worden dieses Mysterium von Golgatha als der große Schwerpunkt der Menschheitsentwickelung. Und klar hat es wohl werden können, daß ohne Berührung irgendeines konfessionellen Standpunktes, sondern rein aus der Geisteswissenschaft heraus, das Verständnis für dieses Ereignis möglich ist, so daß man Verständnis erwarten kann von jeder konfessionellen Strömung der Gegenwart. Auch über die Gründe, warum die einen oder anderen das Christus-Ereignis nicht als den großen Schwerpunkt der Menschheitsevolution annehmen wollen, ist ausführlich gesprochen worden. Aber wir sollen auch so etwas wohl mit der Seele betrachten, wovon ja auch gestern im öffentlichen Vortrag hat gesprochen werden können.

Es könnte sein, daß irgend jemand aus einem Vorurteil heraus nichts wissen wollte von dem, was in einem kleinen Lande zu Beginn unseres Zeitalters sich abgespielt hat, es könnte das ja sein, daß irgend jemand sich nicht kümmern wollte um dasjenige, was wir das Mysterium von Golgatha nennen. Gut, wir wollen sogar annehmen, es wurde einer Seele natürlich sein, auch den geschichtlichen Verlauf so zu denken, daß auszustreichen wäre, was geschehen ist auf Golgatha. Nehmen wir das hypothetisch an.

Wenn diese Seele die Menschheitsentwickelung betrachtet, so würde sie doch etwas finden, was dieses Zeitalter besonders charakterisiert. Davon wurde gestern gesprochen. Es ist in

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jener Epoche vor dem Mysterium von Golgatha der Übergang von einer Stellung der Menschenseele zur Umwelt in äußerlicher Weise, und der nachherigen Stellung der Seele zu ihrer eigenen Innerlichkeit vorhanden, ganz abgesehen von dem Mysterium von Golgatha. In dem Zeitpunkt, in den das Mysterium von Golgatha hineingestellt ist, fand dieser große Übergang der Menschheit statt von einem Leben in der äußeren Umgebung zu der Verinnerlichung. Und jeder kann das fühlen, auch wenn er absieht von dem Mysterium von Golgatha.

Die Menschheit ist in diesem Zeitpunkt an einem Wendepunkt. Man braucht gar nicht einmal von dem Mysterium von Golgatha zu sprechen, sondern man kann die anderen Ereignisse nehmen, und sie werden zeigen, daß vorher die Menschheit in Veräußerlichung gelebt hat, daß aber nachher in einer Verinnerlichung zu leben beginnen die Menschen, die von dem Impuls der Zeit, von ihrem Genius durchzogen werden.

Aber wenn so etwas geschieht, geschieht es in der Weise, daß es vorher vorbereitet wird. Ich will den trivialen Ausspruch nicht gebrau­chen: Die Natur oder die Geschichte macht keinen Sprung. - Der Ausdruck hat nur in gewissen Grenzen Berechtigung, denn vorbereitet - ist es nicht dennoch sprunghafte Entwickelung? - wird ja auch die Blüte in den grünen Blättern schon. So wurde auch vorbereitet das­jenige, was wie ein Einschnitt in der Menschheitsentwickelung sich ausnimmt zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Und wir können nicht nur finden, wenn wir uns vertiefen in dasjenige, was uns als Lehre, als Anschauung entgegentritt in den letzten Jahrhunderten des althebräischen Altertums, wir können nicht nur einen Geist dort finden - allerdings einen eigenen Geist - der Vorbereitung für das Myste­rium von Golgatha, sondern wir können einen solchen Geist der Vorbereitung auch in anderen Gegenden der Erde finden.

Für den Geist des Hebräertums war es ja so, daß er Einschläge ganz anderer Art zeigt, als früher da waren. Eine ganz andere Art der Weltbetrachtung setzt ein im 6. Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha, eine ganz neue Epoche gegenüber dem, was im hebräischen Geistesleben früher da war. Das enthüllt sich dem genau betrachtenden Blicke sehr klar. Und wenn es hier auch in anderer Art hervortritt, weil

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das althebräische Volk allerdings ja anders geartet war, so ist es doch derselbe Geist, der nur einen anderen Ausdruck bekommt; es ist der Geist, der in der griechischen Philosophie, ja selbst in der griechischen Dichtkunst herrscht in den letzten Jahrhunderten vor dem Mysterium von Golgatha. Überall finden wir das. Man braucht nur ernsthaft Geister wie Plato und Aristoteles, ja sogar Sokrates zu betrachten, um zu sehen, daß dieser Wendepunkt überall vorbereitet wird.

Nun werden solche Ereignisse, die hier auf Erden geschehen, gelenkt und geleitet von der übersinnlichen Welt aus. Bevor dieser Ein­schlag geschah in das physische Erdenleben, den wir als das Ereignis von Golgatha bezeichnen, schickt die frühere Leitung der Evolution einen Sendboten aus - dazumal noch einen Sendboten Jahves -, um diesen Einschlag zu leiten. Es war derjenige Geist, der die Kulturepoche vorbereitet hat bis zum Mysterium von Golgatha hin, derselbe Geist, der der Leitet unserer eben anbrechenden Kulturepoche ist, der Geist, den wir Michael genannt haben. Wie Michael den Charakter gibt unserer Zeit, so gab er den Charakter der ganzen Kultur, die das Mysterium von Golgatha vorbereitete. Nur war die Macht, die aus höheren Welten diesen Michael sandte, in jener Zeit Jahve oder Jehova.

In jener Zeit war es nicht so wie in unserer Zeit, wo so leicht einem eingewendet wird, wenn man von geistigen Dingen spricht: Du sprichst viel von Volksgeist oder Zeitgeist oder sonst von geistigen Tatsachen, aber du redest so wenig von Gott. - Die Leute merken nicht, warum man nicht von Gott redet: weil kein menschlicher Begriff wirklich umfassen kann dasjenige, in dem wir leben, weben und sind. Auch hierin existieren Anschauungen, die zum Teil sehr interessant sind. Als ich in einer Stadt jüngst einen öffentlichen Vortrag hielt und, wie das so üblich geworden ist, Fragen zum Beantworten aufgegeben wurden, stellte ein Mensch eine sehr kluge Frage.

Er fragte nämlich: Ja, wenn man doch logischerweise einen Gegenstand dadurch erkennt, daß man ihn als Objekt anschaut, dadurch, daß man ihm gegenübertreten kann - wenn wir ein objektives Bild von einem Gegenstand, den wir in uns haben, wie den Augapfel, nicht haben können aus dem Grunde, weil wir ihn nicht anschauen können -, wie verhält

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es sich dann mit der Behauptung mancher Mystiker, daß man von Gott abrücken müsse, um ihn betrachten zu können? Gewiß haben manche Mystiker die Behauptung aufgestellt, man müsse von Gott abrücken, um sich ihm gegenüberzustellen. Die Frage war klug, aber sie muß nur so beantwortet werden, daß man sagt: Du magst von Gott abrücken soviel du willst, aber du bleibst doch in dem Gott drinnen, du kannst nicht aus dem Gott heraus. - Manche Logik ist recht logisch, aber sie ist auch nur kurzlogisch.

In den Zeiten, wo die Menschen dem Geistigen noch näher standen, da hatte man noch ein Gefühl der Ehrerbietung für das Göttliche, in dem wir leben und weben und sind, das nicht immer mit Namen benannt werden soll, und deshalb bediente sich das althebräische Altertum, um den Namen nicht auszusprechen, des Ausdrucks: «Das Angesicht Jahves». Angesicht ist beim Menschen dasjenige, was er nach außen wendet, wodurch er sich offenbart. Es ist nicht das Ganze des Menschen. Man erkennt ihn nach seiner Innerlichkeit an den Zügen des Antlitzes, aber man vermißt sich doch deshalb nicht, von dem ganzen Menschen zu sprechen, wenn man sein Angesicht meint.

Deshalb nannte man damals Michael «das Angesicht Jahves», nannte viel lieber den Stellvertreter, durch den sich, wie in einem dem Menschen zugewendeten Antlitz, Jahve oder Jehova der Menschheit kundgab. Man nannte auch in vertrauten Kreisen viel lieber den Stellvertreter, als daß man von Jahve selbst sprach. Michael wurde eben damals als der geistige Regent des Zeitalters betrachtet, als der Sendbote Jahves, als derjenige Hierarch, von dem ausstrahlte in der damaligen Zeit, was als Impuls kommen sollte, um das Ereignis von Golgatha zu verstehen.

Nun, in der Zwischenzeit haben andere Wesenheiten aus der Reihe der Archangeloi die Führung der geistigen Menschheitsevolution gehabt. Und das Wesen, das die Führung hatte, als vorbereitet werden sollte das Mysterium von Golgatha, ist dasselbe Wesen, das jetzt wiederum die Fluten des übersinnlichen Lebens in die sinnliche Welt hineinsendet. Ein Michael-Zeitalter war dazumal, ein Michael-Zeitalter ist dasjenige, was gerade jetzt beginnt. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied

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zwischen dem damallgen Michael-Zeitalter und dem unseren, das jetzt beginnt.

Es würde heute zu weit führen, zu charakterisieren, welches Verständnis dem Mysterium von Golgatha die Zeit entgegenbringen konnte, die seit jenem Michael-Zeitalter bis zu dem unsrigen verflossen ist. Es hat tief innige Seelen gegeben, die aus einem mehr oder weniger gesteigerten Glaubensbedürfnisse heraus ihr Verhältnis gewonnen haben zu dem Mysterium von Golgatha und seinem Träger, es hat tief religiöse Naturen gegeben seit dem Mysterium von Golgatha bis zu unseren Zeiten. Aber das Mysterium von Golgatha ist ein solches, welches zwar als eine reale Tatsache am Ausgangspunkt der neueren Zeit steht, dem gegenüber aber die menschliche Seele sich nicht ohne weiteres vermessen darf, es voll zu durchschauen, es voll zu verstehen. Immer neue Epochen werden kommen, die die Menschenseelen immer mehr vertiefen werden, und die immer besser und besser verstehen werden, was geschehen ist im Mysterium von Golgatha. Das Ereignis selber steht da wie der Wendepunkt in der menschlichen Entwickelung, das Verständnis dieses Ereignisses wird immer mehr wachsen und reifen in der geistigen Erdenentwickelung.

Wir können uns nicht tief genug diese Sache in die Seele schreiben. Fassen wir einmal in einer gewissen metaphysischen Abstraktion ins Auge, was eigentlich dazumal geschehen ist. Wir haben es von verschiedenen Standpunkten charakterisiert. Wir wollen einmal einen mehr abstrakten Standpunkt wählen, der aber, wenn wir ihn wirken lassen auf die Seele, eine tiefe Empfindung auszulösen vermag in unserer Seele.

Wenn die gewöhnliche Weltbetrachtung oder auch die gewöhnliche Wissenschaft die Dinge um uns studiert - ich habe auf diese Sache schon gestern im öffentlichen Vortrage aufmerksam gemacht, aber wir wollen das noch einmal ins Auge fassen -, wenn die Dinge um uns herum studiert werden, dann lernt der Mensch durch das gewöhnliche Denken und die gewöhnliche Wissenschaft die Gesetze des Daseins im Mineral-, Pflanzen-, Tier- und menschlichen Reich erkennen. Diese Gesetze, sie gipfeln alle in einem Ideale: das Leben zu verstehen. Aber das Leben selber wird hier auf Erden nicht verstanden. Erkenntnis

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des Lebens kann nur der Okkultismus geben. Die äußere Wissenschaft kann niemals das Leben durchschauen. Und es wäre die ärgste Phantastik zu glauben, daß man jemals, so wie man physikalische oder chemische Gesetze durchschauen kann, auch die Gesetze des Lebens durchschauen könnte. Ein Ideal bleibt es, aber es kann nicht erreicht werden. Für den physischen Plan ist es eine Unmöglichkeit, Erkenntnis des Lebens zu geben. Diese Erkenntnis des Lebens muß der übersinnlichen Erkenntnis aufgespart bleiben.

So unmöglich wie die sinnliche Erkenntnis des Lebens, so unmöglich ist die übersinnliche Erkenntnis des Todes. Es gibt Zustände der grauenvollen Vereinsamung des Bewußtseins in der geistigen Welt, es gibt ein zeitweiliges Untertauchen wie in einen Schlaf, aber es gibt keinen Tod in den höheren Welten. Der Tod ist unmöglich in den höheren Welten.

Alle die Wesen, die wir als die Wesen der höheren Hierarchien kennengelernt haben, sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie den Tod nicht kennen, daß sie durch den Tod nicht durchgehen. Geradeso wie in der Bibel richtig gesagt ist, daß die Engel ihr Antlitz verhüllten vor dem Geheimnis der Geburt, der Menschwerdung, geradeso müssen sie und alle übrigen höheren Wesen ihr Antlitz verhüllen vor dem Tode. Denn der Tod ist ein Ereignis, das nur für die sinnliche Welt möglich ist, nicht aber für die übersinnliche.

Unter den gesamten Wesen der höheren Welten gab es nur eines, das durch den Tod gehen mußte, wir können auch sagen wollte, das ist der Christus. Dazu mußte er auf die Erde herabsteigen.

Damit ein Wesen der höheren Welten das hat bewirken können, was nötig war für die Erdenentwickelung, mußte der Christus heruntersteigen aus einer Welt, in der es keinen Tod gibt, in die Welt, in der es einen Tod gibt.

Solche Vorstellungen, wenn sie auch zunächst abstrakt sind, müssen wir in ein Gefühl, in eine Empfindung verwandeln. Das volle Ver­ständnis dessen, was ich jetzt abstrakt charakterisiert habe, wird ein Gegenstand der Evolution der Menschheit werden. Mit einer ge­wissen Ehrerbietung, Demut und Zartheit zugleich, nähern wir uns heute dem Geheimnis des Mysteriums von Golgatha.

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Was war denn eigentlich geschehen? Es ist oft charakterisiert worden. Der Christus stieg herab aus den übersinnlichen Welten in die Welt, in der er seitdem lebt, zwar als eine geheime Kraft, die sich aber offenbaren wird von unserm Jahrhundert an. Er stieg herab aus der Welt, in der es keinen Tod gibt, in die Welt des Todes. Und er - diese Kraft - hat sich vereinigt mit der Erde. Er ist aus einer kosmischen Kraft zu einer Kraft der Erde geworden. Er ist durch den Tod gegangen, um innerhalb des Erdendaseins aufzuleben, um innerhalb der Erdenwelt zu sein. Und die Menschheit hat sich bemüht in diesen oder jenen Seelen, die sich mit diesem Impuls erfüllten, ihn zu verstehen durch die Jahrhunderte.

Aber je weiter die Entwickelung heranrückte an das abgelaufene Gabriel-Zeitalter, ist es geschehen, daß das Verständnis immer mehr zurückging. Und heute ist es gerade bei denjenigen, die Verständnis haben sollten, recht schlecht bestellt mit diesem Verständnis, und der Materialismus macht sich nicht nur geltend in der heutigen materialistischen Wissenschaft, sondern macht sich im Verfolg auch geltend in der Theologie. Abgenommen hat das wirkliche Verständnis für den Christus-Impuls. Materialismus hat die Seelen ergriffen, er hat sich tief eingenistet in die Seelen. Der Materialismus ist in vieler Beziehung der Grundimpuls der letzten, der abgelaufenen Epoche geworden. Zahlreiche Seelen sind gestorben, die durch die Pforte des Todes gegangen sind mit materialistischer Gesinnung. In einem solchen Maße mit materialistischer Gesinnung durch die Pforte des Todes zu gehen, wie in der abgelaufenen Epoche Seelen hindurchgegangen sind, das konnte in früheren Zeitaltern gar nicht stattfinden.

Dann lebten diese Seelen in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt in der spirituellen Welt so, daß sie nichts wußten von der Welt, in der sie lebten. Da trat ihnen ein Wesen entgegen. Das erblickten sie in dieser Welt. Sie mußten es erblicken, weil dieses Wesen sich vereinigt hatte mit dem Erdendasein, wenn es auch unsichtbar waltet vorläufig im sinnlichen Erdendasein. Und den Anstrengungen dieser durch die Pforte des Todes gegangenen Seelen ist es gelungen, den Christus, wir können nicht anders sagen als: zu vertreiben aus der spirituellen Welt.

Und der Christus mußte erleben eine Erneuerung

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des Mysteriums von Golgatha, wenn auch nicht in derselben Größe wie das vorhergehende. Damals ging er durch den Tod, jetzt war es ein Hinausgestoßenwerden aus seinem Sein in der spirituellen Welt. Und dadurch erfüllte sich an ihm das ewige Gesetz der spirituellen Welt. Was in der höheren, spirituellen Welt verschwindet, das ersteht aufs neue in der niederen Welt.

Wenn es im 20. Jahrhundert möglich ist, daß die Seelen sich heranentwickeln zum Verständnis des Mysteriums von Golgatha, so rührt es von diesem Ereignis her, daß der Christus durch eine Verschwörung der materialistischen Seelen herausgetrieben ist aus den spirituellen Welten, versetzt worden ist in die sinnliche Welt, in die Menschenwelt, so daß auch in dieser sinnlichen Welt ein neues Verständnis beginnen kann für den Christus. Daher ist auch der Christus in noch innigerer Weise vereinigt mit allem, was die Schicksale der Menschen auf Erden sind. Und wie man einstmals hinaufsehen konnte zu dem Jahve oder Jehova und wissen konnte, daß er dasjenige Wesen war, das den Michael vorausgesendet hat, um vorzubereiten, was da herüberführen sollte aus dem Jahve-Zeitalter zum Christus-Zeitalter, während es früher Jahve war, der den Michael sandte, ist es jetzt der Christus, der uns den Michael sendet.

Das ist das Neue, das Große, was wir für uns in ein Gefühl verwandeln sollen. Wie man früher sprechen konnte von Jahve- Michael, dem Leiter des Zeitalters, können wir jetzt sprechen von dem Christus-Michael. Michael hat eine Erhebung in eine höhere Stufe, vom Volksgeist zum Zeitgeist durchgemacht dadurch, daß er vom Sendboten Jahves zum Sendboten des Christus geworden ist.

Und so reden wir von einem richtigen Verständnis des Christus-Impulses, wenn wir von einem richtigen Verständnis des Michael­-Impulses in unserer Zeit sprechen.

Abstraktes Verständnis geht auf Namen, immer wieder auf Namen, und glaubt etwas zu haben, wenn es so vorgeht, daß es frägt: Was ist Michael für ein Wesen? - und wissen will: er ist aus dieser oder jener Hierarchie hervorgegangen, er ist ein Erzengelwesen, Erzengelwesen haben diese oder jene Eigenschaften. Dann definiert man das und glaubt nun zu wissen, was ein solches Wesen ist. Es ist nicht damit

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getan, daß man von Michael spricht, weil man, gerade wenn man die Menschheitsevolution verstehen will, den Michael in seiner Evolution verstehen muß, daß er dasselbe Wesen ist, das den Ton angegeben hat zur Vorbereitung des Mysteriums von Golgatha, und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt für das Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Dazumal aber war er ein Volksgeist, und jetzt ist er ein Zeitgeist. Dazumal war er der Sendbote des Jahve, jetzt ist er der Sendbote des Christus. Und wir sprechen so recht von dem Christus, wenn wir sprechen von Michael und seiner Sendung und wissen, daß das, was dazumal Michael war, der Träger der Jahve-Mission, jetzt der Träger der Christus-Mission ist.

Wir haben Michael verfolgen können, einen Geist, der sozusagen aufgestiegen ist, der, um der Menschheit einen neuen Impuls zu ver­mitteln, aufgestiegen ist oder aufsteigt aus dem Range der Archangeloi zum Range der Archai.

Der Platz wird ausgefüllt durch eine andere Wesenheit, die nachkommt. Ich habe hier verschiedene Male gesprochen von der Evolu­tion, die Buddha durchgemacht hat. Jene knabenhaften Einwendungen, die uns jetzt gemacht werden, machen sich in ihrer Dreistigkeit auch heran an unsere Auffassung des Christus-Impulses in der Welt, als ob wir mit unserer Darlegung des Christus-Impulses jemals einseitig gewesen wären. Wir lenken die Blicke auf die Gesamtevolution, und wir charakterisieren dasjenige, was der Evolution unterliegt, aus den verschiedenen Impulsen heraus und geben jedem sein Recht. Wie oft ist es betont worden, daß für uns Wahrheit ist, daß der Bodhisattva, der als der Gautama Buddha geboren ist, eben ganz Buddha geworden ist. Wir haben seine Evolution verfolgt bis zu dem Zeitpunkt, wo er seine Mission auf dem Mars bekommen hat. Davon ist hier schon gesprochen worden.

Solange der Mensch auf Erden weilt, wie hoch er auch stehen mag, kann man immer bei jedem Menschen von jener Individualität sprechen, die ihn leitet von Inkarnation zu Inkarnation. Die individuelle Führung der Menschen unterliegt den Angeloi, den Engelwesen. Wenn ein Mensch vom Bodhisattva zum Buddha wird, dann wird sozusagen sein Engel frei. Solche Engelwesen sind es dann, die

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nach Erfüllung ihrer Mission aufsteigen in die Reiche der Erzengelwesen.

So ergreifen wir an einem Punkte wirklich das Aufsteigen des Erzengels zum Wesen der Archai und das Aufsteigen eines Engelwesens zum Erzengelwesen, wenn wir wirklich verstehen, tiefer und tiefer hineinzuschauen in dasjenige, was hinter unserer sinnlichen Evolution als die übersinnliche Evolution steht.

Nun, dasjenige, was ich also zu Ihnen gesprochen habe über den spirituellen Hintergrund der Welt, in der wir drinnenstehen, und in die wir uns als Anthroposophen hineinstellen wollen, ich habe es nicht deshalb gesprochen, damit die Seelen bloß theoretisieren über diese Dinge, sondern damit die Seelen das, was in Worten und Begriffen ausgedrückt ist, in Gefühle und Empfindungen verwandeln. Ja, Anthroposoph sein in unserer Gegenwart heißt wissen, wie es beschaffen ist in der übersinnlichen Welt, die zugrunde liegt der sinn­lichen Welt der Menschheitsevolution, sich zu fühlen in der geistigen Welt, wie sich der physische Mensch in der Atmosphäre physisch fühlt. Sich so zu fühlen in der geistigen Welt! Aber man fühlt sich nicht in der geistigen Welt, wenn man bloß betont: Geist und Geist und Geist ist in uns! So wie man die Erdenatmosphäre nach Wolkenbildungen, Feuchtigkeits- und anderen Erscheinungen konkret zu be­urteilen hat, so müssen wir auch die geistige Welt, in die wir jede Nacht mit dem Einschlafen untertauchen, im Konkreten erfühlen; empfinden, erkennen, daß da lebt in dieser geistigen Welt dasjenige, was in der Gegenwart geschieht durch die Sendung, die an Michael übertragen ist von dem Christus aus, die ergangen ist an denselben Geist aus der Hierarchie der Archangeloi, dessen sich bedient hat zur Vorbereitung des Mysteriums von Golgatha einstmals der Impuls von Jahve.

Das ist es, was hinter unserer physisch-sinnlichen Evolution sich abspielt. Und drinnen sich zu fühlen in solchem Geschehen in der geistigen Welt, wie wir uns physisch fühlen in der Atmosphäre, die wir ein- und ausatmen, das heißt in der Gegenwart gegenüber der geistigen Welt im konkreten Sinne das richtige Bewußtsein haben.

Versuchen Sie es, in eine Gesamtempfindung Ihrer Seele zu verwandeln

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solche Ergebnisse des Okkultismus, wie ich sie jetzt versuchte an Ihre Seelen zu legen. Versuchen Sie, einen empfindenden Begriff davon zu gewinnen, zu beachten, was es heißt, gerade heute in diesem Zeitalter wissend drinnen zu leben in dem, was geistig um uns geschieht, in dem, wohin unsere Seele geht jeden Abend, wenn wir einschlafen, und woher wir kommen jeden Morgen, wenn wir aufwachen. Versuchen Sie, die Seele hinaufzulenken in dieses Konkrete, was oftmals ganz abstrakt genannt wird die göttliche Vorsehung. Das ist im Charakter unserer Zeit gelegen. Versuchen Sie das, was der Mensch im verflossenen Zeitalter unbestimmt nur fühlen durfte als die durch die Welt flutende Vorsehung, das in der Gegenwart als einzelne Wesen zu erkennen, zu empfinden.

Lassen Sie es als ein Bild vor Ihrer Seele stehen, daß das verflossene Zeitalter die Naturwissenschaft finden mußte. Damals waren die Naturgesetze gut, wenn sie richtig gebraucht wurden in der Menschenseele, um die äußeren Weltanschauungen aufzubauen. Aber es gibt nichts absolut Gutes oder Böses in dieser äußeren Welt der Maja. Schlecht und böse würden die Naturgesetze in unserem Zeitalter, wenn sie weiter gebraucht würden zum Aufbau einer Weltanschauung in der Zeit, wo das spirituelle Leben hereinfließt in die sinnliche Welt. Nicht dasjenige, was die verflossenen Zeitalter getan haben, wird getroffen mit diesen Worten, sondern das, was bleiben will, wie es in früheren Zeitaltern war, was sich nicht in den Dienst stellen will der neuen Offenbarung.

Michael hat nicht jenen Drachen bekämpft in dem Zeitalter, das abgelaufen ist, denn da war der Drache, der jetzt gemeint ist, noch nicht ein Drache. Ein Drache wird er werden, wenn diejenigen Begriffe und Ideen, die nur naturwissenschaftliche sind, zur Weltanschauung des nächsten Zeitalters aufgebaut werden sollten. Und das, was sich da aufbäumen will, das ist wiederum, richtig aufgefaßt, in dem Bilde als der Drache, der besiegt werden muß von Michael, dessen Zeitalter in unseren Jahren beginnt.

Das ist eine wichtige Imagination: Michael besiegend den Drachen. Spirituelles, flutendes Leben hinein zu empfangen in die Sinnesweit: Michael-Dienst ist es von jetzt ab. Ihm dienen wir in der Besiegung

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des Drachens, der sich auswachsen will in Ideen, die während des verflossenen Zeitalters den Materialismus gebracht haben, die sich hinüberwachsen wollen in die Zukunft. Das zu überwinden, heißt im Dienst des Michael stehen. Das ist der Sieg des Michael über den Drachen.

Es ist wieder das alte Bild, das für frühere Zeiten eine andere Bedeutung hatte, das aber jetzt die rechte Bedeutung für unser Zeitalter bekommen soll. Erstehen kann uns unsere Aufgabe in dem Bilde «Michael besiegt den Drachen», wenn wir fühlen, woran wir teil­nehmen sollen als Menschen eines neuen Zeitalters.

Nun wohl, versuchen wir dieses Bild zu unserer Imagination zu machen, versuchen wir unsere Zeit zu verstehen dadurch, daß wir uns wissen konkret in der Geistesführung drinnen, die die Geistesführung unseres Zeitalters ist, die die Geistesführung jeder Menschenseele sein kann, jeder solchen Menschenseele, die da aufrichtig und ehrlich eine Entwickelung sucht, einen Aufstieg zu immer höheren Stufen des geistigen Lebens.