Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 152 Vorstufen zum Mysterium von Golgatha

1. Vortrag London, 1.Mai 1913

Vorbedingungen zur späteren Fähigkeit, sich an das jetzige Leben erinnern zu können.
Ausbildung dreier Lotusblumen (Stirn, Kehlkopf, Herz) zur Erlangung höherer Erkenntnisse.

Es ist mir eine große Befriedigung, heute zum ersten Mal hier in diesem Lande unsere Freunde zu begrüßen. Ich bedauere, daß ich nicht in Ihrer eigenen Sprache zu Ihnen sprechen kann, aber um diese Schwierigkeit zu überwinden, wird unser Freund Baron Walleen heute Satz für Satz, den ich sprechen werde, übersetzen, und morgen werde ich den Vortrag ohne Unterbrechung halten, und Baron Walleen wird die Güte haben, eine Zusammenfassung auf Englisch zu geben.

Unsere lieben Freunde in diesem Lande, die uns öfters besucht haben auf dem Kontinent, haben in der schönsten Weise ein inneres Band geknüpft zwischen unseren Freunden hier und denjenigen auf jener Seite. Das schöne Heim, in welchem wir heute versammelt sind, ist ein Beweis dafür, mit welchem tief innerlichen Empfinden unsere Freunde in diesem Lande sich mit uns vereinen, um für die Verbreitung der Anthroposophie zu arbeiten. Und diejenigen, welche vom Kontinent herüber gekommen sind, um unsere englischen Freunde zu besuchen, werden sich wahrhaft freuen, in diesem Zweige einen so schönen Rahmen für dasjenige zu finden, was uns so sehr am Herzen liegt, was in unseren Seelen so tief wurzelt.

Mit jenem tiefen inneren Gefühl der Einheit, welches zur Anthroposophie gehört und in welchem alle menschlichen Wesen auf der Erde sich vereinigen sollten ohne Unterschied der Rasse, Farbe oder dergleichen, mit diesem Gefühl erlauben Sie mir, heute zum ersten Mal zu Ihnen zu sprechen und Sie aufs herzlichste zu begrüßen. Und es sollte eine gute Gewähr sein für unsere Arbeit in der Zukunft, daß wir Freunde gefunden haben, die mit so großem innerlichen Entliusiasmus die Arbeit hier in diesem Lande übernommen haben.

Das Thema, welches wir heute besprechen wollen, führt uns sogleich in ein Gebiet, welches der ganzen Menschheit angehört, abgesehen von allen Unterschieden.

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Zunächst haben wir von dem Gebiet des menschlichen Strebens zu sprechen, welches in seiner wahren Gestalt in keiner menschlichen Sprache beschrieben werden kann, sondern in seiner ursprünglichen Form nur in der Sprache des Gedankens: das ist das Gebiet der okkulten Wissenschaft.

Durch seine menschlichen Fähigkeiten strebt der Mensch nach okkulter Erkenntnis und kann sie auch erlangen. Aber okkulte Erkenntnis hat eine größere Bedeutung für die Welt als die, welche sie nur innerhalb der menschlichen Seele hat. In der Welt, die uns umgibt, können wir verschiedene Substanzen und Stoffe unterscheiden, durch die ihre verschiedenen Phänomene und Offenbarungen ausgedrückt werden. In jenem Urprinzip, welches kaum ausgedrückt werden kann in menschlicher Sprache, wurzeln alle Kreaturen und alle Dinge der Erde und alle Welten. Aber in der physischen Welt drücken sich die einzelnen Differenzierungen dieses ersten Prinzips aus in den Substanzen der Erde, des Wassers, der Luft, des Feuers, des Äthers und so weiter.

Eine der subtilsten Substanzen, die dem menschlichen Streben noch zugänglich ist, wird Akasha genannt. Und die Offenbarungen von Wesenheiten und Phänomenen in der Akasha-Substanz sind die subtilsten von allen, die dem Menschen zugänglich sind. Das, was der Mensch sich erwirbt in okkulter Erkenntnis, wohnt nicht nur in seiner Seele, sondern es wird auch eingeprägt in die Akasha-Substanz der Welt. Wenn wir einen Gedanken der okkulten Wissenschaft lebendig in unserer Seele machen, wird er sofort in die Akasha-Substanz eingeschrieben, und es ist von Bedeutung für die allgemeine Entwickelung der Welt, daß solche Einprägungen in die Akasha-Substanz gemacht werden, denn diese Einprägungen, die gemacht werden können von der Menschheit und welche wir beschreiben als okkulte Wissenschaft, können von keiner anderen Wesenheit in der ganzen Welt in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden als nur vom Menschen.

Es ist wichtig für uns, daß wir ein Charakteristikum der Akasha-Substanz beachten, nämlich, daß der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt in der Akasha-Substanz lebt, genauso, wie wir zum Beispiel hier auf der Erde innerhalb der Atmosphäre leben.

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Wenn ein Seher mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, in Beziehung treten sollte mit menschlichen Seelen, die zwischen Tod und neuer Geburt leben, so würde er folgendes bemerken können. Ein Mensch, der in dem gegenwärtigen Entwickelungszyklus hier auf Erden - früher war dies anders - nie in der Lage ist, geisteswissenschaftliche Gedanken und Ideen in sich rege zu machen, ein solcher kann nicht beobachtet oder gesehen werden, wenn er auch zugegen ist, von einer menschlichen Seele, die zwischen Tod und neuer Geburt lebt. Wenn ein Mensch, der hier auf der Erde lebt, einen geisteswissenschaftlichen Gedanken, eine Idee in sich rege macht, so daß sie in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden können, dann wird er sichtbar den anderen Seelen, die zwischen Tod und neuer Geburt leben. Ein Seher, der sich in Geduld vorbereitet hat für die Gabe des Sehertums, kann, wenn er in Beziehung tritt zu Seelen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, tief erschütternde Eindrücke bekommen. Ich will Ihnen ein genaues Beispiel geben von einem solchen Fall.

Ein Seher fand einen Mann, der durch die Pforte des Todes gegangen war und der seine Frau, die er sehr liebte, und seine Kinder, die er nicht minder liebte, zurückgelassen hatte. Dieser Mann und seine Familie waren liebe, gute Leute, aber sie hatten keine Neigung, geistige Erkenntnisse in ihre Seele aufzunehmen, und sie waren nicht über die religiösen Überlieferungen hinausgewachsen, durch welche gewisse Seelen sich heute noch verbunden fühlen mit der geistigen Welt.

Und einige Zeit, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen war, sagte dieser Mann zu sich: Ich habe meine liebe Frau und Kinder auf der Erde zurückgelassen, die der Sonnenschein meines Lebens waren; mit meinem geistigen Schauen kann ich sie aber nicht erreichen. Ich habe nur die Erinnerung an die Zeit, die ich mit ihnen zusammen verbracht habe auf Erden.

Ein ganz anderes Bild kann gesehen werden, wenn eine Seele, die noch auf Erden ist, sich klare, starke geistige Gedanken und Ideen bildet. Wenn eine andere Seele, die zwischen Tod und neuer Geburt lebt, hinunterschaut auf diese Seele, die sie zurückgelassen hat, kann sie deren Seelenleben verfolgen in der gegenwärtigen Zeit, weil dieses Seelenleben sich in die Akasha-Substanz einschreibt.

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Hier berühren wir einen Punkt, der uns zeigt, wie die anthroposophische Lehre die Kluft abschaffen wird zwischen den sogenannten Lebenden und den sogenannten Toten. Und schon in der gegenwärtigen Zeit können wir sehen, wie Menschen, die ein Verständnis haben für das Geistige, von großem Segen sein können für die sogenannten Toten dadurch, daß sie ihnen in Gedanken die Wahrheiten der Geisteswissenschaft vorlesen. Wenn wir folgen in Gedanken, entweder laut oder uns selbst vorlesend, den Ideen und Begriffen der Geisteswissenschaft und zu gleicher Zeit empfinden, daß einer oder mehrere, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, vor uns sitzen, während wir lesen, dann wird dieses Lesen - weil solche Gedanken in die Akasha-Substanz eingeschrieben werden - etwas sehr Reales für sie werden. Und dieses Lesen kann nicht nur denjenigen jenseits des Todes von größtem Nutzen sein, die, während sie auf Erden waren, sich mit dem Studium der Geisteswissenschaft beschäftigten, sondern auch denjenigen, die, während sie hier waren, nichts damit zu tun haben wollten.

Nun könnte die Frage gestellt werden: Da doch die Toten fortleben in der geistigen Welt, brauchen sie denn ein solches Vorlesen? Es gibt viele, die glauben, daß man nur durch die Pforte des Todes zu gehen braucht, um alles das zu erfahren, was auf der Erde nur mit großer Mühe durch Geisteswissenschaft erreicht werden kann. Solche Menschen glauben auch, daß jemand nur zu sterben braucht, um sich nach dem Tode das ganze okkulte Wissen erwerben zu können, weil er dann in der geistigen Welt sein wird. Aber dies ist nicht der Fall.

Genauso, wie es hier auf der Erde andere Wesenheiten als die Menschen gibt, wie es zum Beispiel bei den Tieren der Fall ist, die alles sehen, was der Mensch durch seine Sinne sehen kann, während es ihnen nicht möglich ist, sich darüber Ideen und Begriffe zu bilden, so ist es mit den Seelen, die in den übersinnlichen Welten leben, die, obgleich sie die Wesenheiten und Tatsachen der höheren geistigen Welt sehen, sich keine Begriffe und Ideen darüber bilden können, wenn die Menschen hier auf Erden nicht solche Begriffe und Ideen in die Akasha-Chronik einschreiben.

Die Mission des menschlichen Lebens auf der Erde ist nicht ohne

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Bedeutung, sondern sie ist im Gegenteil von großer Bedeutung. Wenn menschliche Seelen nie auf der Erde gewohnt hätten, so würden doch die geistigen Welten da sein, aber es würde kein okkultes Wissen von diesen geistigen Welten geben. Die Erde hat im Laufe der Evolution der Welt einen Punkt erreicht, wo Geisteswissenschaft entwickelt werden kann durch geistige Wesenheiten, die so organisiert und konstituiert sind wie die Menschen auf der Erde. Und das, was durch Geisteswissenschaft eingetragen worden ist in die Akasha-Substanz, wäre nie darin gewesen, wenn es nicht Geisteswissenschaft auf der Erde gegeben hätte.

Wenn jemand versucht, sein Seelenleben auf der Erde zu prüfen, so wird er zunächst entdecken, daß er während unseres jetzigen Zeitalters seine Tätigkeiten für das Erwerben von Erkenntnis für andere Zwecke verwendet hat als für das Erwerben von Geisteswissenschaft. Diese menschlichen Fähigkeiten des Lernens sind dazu verwendet worden, um Erkenntnisse zu erwerben, die ins Leben gerufen worden sind durch die Sinne und durch den Verstand, der an das menschliche Gehirn gebunden ist. So haben wir menschliche Erkenntnis von zweierlei Art: die eine Art gehört nur zu der Erfahrung, die durch die Sinne erworben wird, die das Organ des Verstandes braucht, um sie in Erkenntnis umzuwandeln, die andere Art ist die Geisteswissenschaft.

Die Erkenntnis, die der Sinnenwelt allein angehört, bildet die eine Strömung, die andere besteht aus dem, was die Menschen durch die Geisteswissenschaft in die Akasha-Chronik einschreiben. Denn die Geisteswissenschaft bildet Ideen und Begriffe aus, die dann ewig in der Akasha-Chronik eingeschrieben bleiben.

Alles Wissen, alle Erkenntnis, die zu den Erfahrungen durch die Sinne gehören, zu den technischen Dingen, zu dem geschäftlichen und industriellen Leben der Menschheit, wirkt so, wenn es in die Akasha-Substanz eingeschrieben wird, daß die Akasha-Substanz dieses Konglomerat von Ideen und Begriffen wieder ausstößt, mit anderen Worten, sie werden ausgelöscht. Wenn man die eben erwähnten Tatsachen mit den Augen eines Sehers betrachtet, so kann man beobachten, daß ein Streit stattfindet in der Akasha-Substanz zwischen den Eindrücken, die durch menschliche okkulte Wissenschaft da hinein gemacht werden

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und die ewig sind, und zwischen denjenigen, die auf Sinnesergebnissen beruhen, die nur vorübergehend sind. Dieser Streit entsteht aus dem Umstand, daß der Mensch, als er zuerst anfing die Erde zu bewohnen als Mensch - das heißt in der uralten lemurischen Epoche -, schon damals durch hohe geistige Wesenheiten dazu bestimmt war, Geisteswissenschaft zu erwerben.

Aber durch das, was wir den luziferischen Einfluß nennen, durch das Eingreifen von luziferischen Wesenheiten, lenkte der Mensch seine Gedankenkraft und andere Seelenkräfte, die er sonst nur auf das Erwerben von okkulten Ideen und Begriffen verwendet haben würde, ab auf das Studium solcher Dinge, die nur der physischen Welt angehören.

Es gibt jetzt viele Menschen, die sagen, während die gewöhnliche Wissenschaft allen offen sei, so könne doch Geisteswissenschaft nur denen nahegebracht werden, die in die geistigen Welten schauen können. Darin liegt ein Grundirrtum, denn innerhalb der Tiefen seiner eigenen Seele besitzt jeder Mensch die Fähigkeit und die Kraft, sogar ehe er ein Seher wird, die Wahrheiten der Geisteswissenschaft zu erkennen. Es ist wahr, daß okkulte Wahrheiten nur von dem Seher entdeckt werden können; aber wenn sie einmal entdeckt und in der gewöhnlichen normalen Sprache der menschlichen Vernunft ausgedrückt worden sind, so können sie von jeder menschlichen Seele verstanden werden, welche die Hindernisse für ein solches Verständnis aus ihrem Innern wegräumen will.

Als Resultat der luziferischen Impulse wurde es später in der Entwickelung der Erde einer anderen Wesenheit, die wir Ahriman nennen, möglich, Einflüsse über die Seelen der Menschen zu gewinnen. Und nur dann, wenn die Möglichkeit des Verständnisses für die Geisteswissenschaft durch ahrimanische Einflüsse in der Seele zurückgehalten wird, bleibt dieses Verständnis für die Geisteswissenschaft unerreichbar. Wenn die Wesenheit, die wir Ahriman nennen, nicht in jeder menschlichen Seele arbeitete, wenn unsere Seelen ohne seinen Einfluß wären, dann brauchte eine Idee oder ein Gedanke der Geisteswissenschaft nur ausgesprochen zu werden und eine menschliche Seele würde

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durch ihr unterbewußtes Verhältnis zu dieser Wahrheit in ihrem innersten Wesen folgendes fühlen: Diese Idee, die Behauptung der Geisteswissenschaft ist wahr. - In jeder menschlichen Seele gibt es ein Leben, welches das alltägliche Bewußtsein versteht und worüber es sich Rechenschaft geben kann, und ein unterbewußtes Seelenleben, das begraben liegt wie in den Tiefen des Ozeans und das nur von Zeit zu Zeit ans Licht gebracht wird.

Zu den Tiefen der Seele gehört zum Beispiel jene Furcht, die in jedem Menschen vorhanden ist: die Furcht vor dem rein Geistigen. Diese Furcht ist das Resultat von Ahrimans Einfluß und würde nicht existieren, hätte Ahriman nicht Macht erlangt über die Seelen der Menschheit. Der Grund, warum der Mensch sich einer solchen Furcht meist nicht bewußt ist, liegt darin, daß diese in den tiefsten Untergründen der Seele arbeitet und keine Rolle spielt in dem, worüber er sich mit seinem alltäglichen Bewußtsein Rechenschaft geben kann.

Zuweilen klopft diese Furcht an die Tür des gewöhnlichen Bewußtseins eines Menschen, ohne daß er weiß, was es ist, das ihn aus der Tiefe seiner Seele heraus beunruhigt, und dann sucht er etwas, das betäubend wirkt, das sein Gefühl der Furcht, von dem er nichts wissen will, abstumpfen soll. Dieses Betäubungsmittel findet er in den materialistischen Gedanken, Theorien und Ideen.

Materialistische Theorien werden nicht aus logischen Gründen erfunden, obgleich man glauben könnte, daß das der Fall wäre, sondern sie werden ausgedacht aus einer Furcht vor dem Geistigen, die das Resultat von Ahrimans Einfluß auf die Seele ist. Deshalb ist die vorbereitende Bedingung für das unmittelbare Verständnis der spirituellen Wahrheiten viel weniger eine Kenntnis der physischen Wissenschaft als eine Erziehung der Seele in der Tugend des moralischen Mutes, des innerlichen geistigen Mutes. Und deshalb können wir sagen, daß das okkulte Wissen von dem Seher erforscht werden muß, aber es kann dann von jeder menschlichen Seele verstanden werden, wenn diese Seele nur den ganzen moralischen Mut, den sie besitzt, in sich frei machen will, so daß sie die Hindernisse, die von Ahriman herrühren, beseitigen kann.

Sollte jemand den Wunsch haben, die okkulten Wahrheiten durch die ursprünglichen moralischen Kräfte seiner Seele zu verstehen, so

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kann er den folgenden Versuch machen. Er kann Geisteswissenschaft auf sein Gemüt wirken lassen, ohne daß er sich vorher sagt: Ich stimme hiermit überein oder ich stimme nicht damit überein. - Er kann die geisteswissenschaftlichen Ideen und Begriffe, die von dem Seher gegeben worden sind, aufnehmen und sie auf sein Gemüt wirken lassen. Und wenn er dann das okkulte Wissen mit innerem Enthusiasmus und nicht aus bloßer Neugierde aufgenommen hat, so wird er etwas erfahren, was mit einem physischen Schweben ohne Boden unter den Füßen verglichen werden kann, mit einem Gefühl, als schwebte er in der Luft.

Dieser Versuch wird eine völlig verschiedene Wirkung hervorrufen, je nachdem er von jemand mit religiösen, ehrfurchtsvollen Neigungen gegenüber dem geistigen Leben gemacht wird oder von jemand, der gewohnt ist, materialistisch zu denken. Jemand, der kein okkultes Wissen besitzt, dessen Neigungen und Gefühle jedoch der geistigen Welt gegenüber von religiöser Art sind, kann sich etwas unsicher fühlen als Resultat dieses Versuches, aber viel weniger als ein Materialist, der kein Gefühl der Anziehung zur geistigen Welt hat. Der letztere wird ein starkes Gefühl von Furcht, von unsicherem Schweben erleben. Der Materialist kann sich durch dieses Erlebnis überzeugen, daß okkulte Ideen und Begriffe ihn auf eine solche Weise berühren, daß sie Furcht und Schrecken hervorrufen. Und durch ein solches Erlebnis kann der Materialist erkennen, wie voll von Furcht er noch steckt, und kann zu sich sagen: Dieses beweist mir nicht nur, daß ich erfüllt bin von Furcht vor diesem Gebiet, sondern daß das Fürchten eine meiner Grundneigungen ist.

Hätten zum Beispiel Ernst Haeckel oder Herbert Spencer diesen Versuch gemacht, so hätten sie sich nicht allein davon überzeugt, daß okkultes Wissen nicht widerspruchsvoll sei und unmöglich geglaubt werden könne, sondern daß sie in den innersten Tiefen ihrer Seelen von Furcht erfüllt seien. Und sie würden gewissermaßen bald allen Zweifel und Unglauben gegenüber dem, was sie als Phantasien der geistigen Lehren zu betrachten pflegten, vergessen haben, und hätten sich eingestanden, daß es von großer Bedeutung sei, diese Furcht zu überwinden. Und hätten sie sich einmal dieses Bekenntnis gemacht, so hätten sie bald ihren Widerstand gegen die Phantasien der geistigen

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Lehren aufgegeben. Sie würden sich gesagt haben: Ich muß versuchen, den moralischen Mut in mir zu stärken. - Und dann hätten sie vielleicht ihre Selbsterziehung in die Hand genommen. Und wäre es ihnen gelungen, diese Furcht zu überwinden, so hätten sie gesagt: Jetzt, da wir stärkere Seelen geworden sind, haben wir keine Zweifel mehr an der Wahrheit der Geisteswissenschaft. - Dieses Erlebnis durch die Verstärkung des moralischen Mutes in der Seele ist ein Sieg über Ahriman, dessen Einfluß in der Wissenschaft Ernst Haeckels und in der Philosophie Herbert Spencers gesehen werden kann. Ahriman ist derjenige, der die Seelen inspiriert hat, eine materialistische Richtung einzuschlagen.

Wenn nur ein kleiner Teil der Menschheit - als Resultat ihrer wahren Erkenntnis - in der Weise arbeiten wird, die eben angedeutet wor­den ist, um ihren moralischen Mut zu kräftigen, so werden alle diese materialistischen Theorien allmählich aus der Welt verschwinden.

Wie wir gesehen haben, ist okkultes Wissen nötig für den ganzen Werdegang der Evolution, weil es in die Akasha-Substanz ein­geschrieben werden muß. Von welcher Bedeutung dies für uns sein mag, kann durch eine kurze Skizze der Entwickelung der Menschheit auf Erden gezeigt werden.

Die Entwickelung des Menschen auf der Erde schreitet stufenweise von einer Kulturperiode zu der anderen fort. Während dieser auf­einanderfolgenden Perioden bewohnen die menschlichen Seelen als Individualitäten Körper, die diesen aufeinanderfolgenden Kulturen der Erde angehören. Alle die Seelen, die heute abend hier versammelt sind, waren in Körpern inkarniert, die früheren Kulturen angehörten. Jede einzelne Seele schreitet fort, je nach dem Karma, das sie für sich aufgebaut hat.

Außer dieser Entwickelung der individuellen Seelen, die von ihrem Karma abhängt, müssen wir die Entwickelung der Menschheit als ein Ganzes anerkennen, die in menschlichen Körpern von Epoche zu Epoche fortschreitet. Ein griechischer Körper, ein ägyptischer, chaldäischer, urpersischer oder atlantischer Körper war in den feineren Teilen seines Baues ganz verschieden von einem menschlichen Körper des gegenwärtigen Zeitalters.

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Wir müssen unterscheiden zwischen dem inneren Fortschritt des Ich und des Astralkörpers von Inkarnation zu Inkarnation und dem äußerlichen Fortschritt und der Veränderung in den physischen und ätherischen Körpern von einer Rasse zu der anderen, von einer Nation zu der anderen, von einem Zeitalter zu dem anderen.

Dieser Fortschritt der äußeren Körper, der physischen und ätherischen, von einem Zeitalter zum anderen, würde denen, die Anatomie und Physiologie studieren, nicht bemerkbar sein, aber er ist trotzdem vorhanden und kann durch die okkulte Wissenschaft erkannt werden. Und so wird der menschliche physische Körper wieder ganz verschieden sein im Laufe der normalen Entwickelung der Menschheit, wenn nach unserem jetzigen Leben unsere Seelen in einer zukünftigen Verkörperung wieder auf der Erde erscheinen werden.

In der jetzigen Menschheitsperiode wird ein zartes Organ vorbereitet, das für den äußeren Anatomen und Physiologen nicht bemerkbar ist. Und doch existiert es anatomisch. Dieses Organ liegt im menschlichen Gehirn, in der Nähe des Sprachorgans.

Die Entwickelung dieses Organs in den Gehirnwindungen ist nicht das Ergebnis des Karma individueller Seelen, sondern sie ist ein Er­gebnis der menschlichen Evolution als eines Ganzen auf der Erde, und in der Zukunft werden alle Menschen dieses Organ besitzen, ganz gleich was die Entwickelung der Seelen sein mag, die sich in diesem Körper inkarnieren werden, und ganz unabhängig von dem Karma, das mit diesen Seelen verbunden ist.

Dieses Organ wird in einer zukünftigen Inkarnation von Menschen besessen werden, die gegenwärtig vielleicht der Anthroposophie feindlich sind, wie von denjenigen, die ihr jetzt sympathisch gegenüberstehen. Dieses Organ wird in der Zukunft das physische Instrument für gewisse Seelenkräfte sein, genauso wie zum Beispiel Brocas Organ in der dritten Gehirnwindung das Organ für die menschliche Fähigkeit der Sprache ist.

Wenn dieses Organ entwickelt ist, kann es von der Menschheit entweder richtig angewendet werden oder auch nicht. Diejenigen werden es richtig anwenden können, die jetzt die Möglichkeit vorbereiten, die jetzige Inkarnation wahrheitsgemäß in der Erinnerung zu haben, wenn

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sie in der nächsten sein werden. Denn dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Entwickelung.

Gegenwärtig kann für die weitaus größte Zahl von Menschen die Erinnerung an frühere Inkarnationen nur erlangt werden durch höhere geistige Entwickelung, durch Initiation. Aber das, was in jetzigen Zeiten nur durch Initiation erlangt werden kann, wird später gewis­sermaßen Gemeingut der Menschheit. Unser heutiges Wissen war früher das besondere Wissen der atlantischen Eingeweihten allein, jetzt kann es jeder besitzen. In derselben Weise ist die Erinnerung an frühere Erdenleben gegenwärtig nur den Eingeweihten möglich, aber in der Zukunft wird jede menschliche Seele im Besitz derselben sein.

Dem Eingeweihten ist es möglich, gewisse Kenntnisse ohne den Gebrauch eines physischen Organes zu erlangen, aber dieses Wissen kann nur dann das Gemeingut der Menschheit werden, wenn die Menschheit als Ganzes im Laufe der Evolution ein äußeres physisches Organ entwickelt, wodurch es erlangt werden kann.

Die reinkarnierten Seelen müssen jedoch dieses Organ richtig gebrauchen können, mit dessen Hilfe man sich später an seine früheren Inkarnationen erinnern wird. Nur diejenigen, die in der jetzigen Inkamation okkulte Gedanken und Ideen deutlich in die Akasha-Substanz eingeschrieben haben, werden dieses Organ auf die richtige Weise gebrauchen können.

Man hört oft sagen: Was nützt es, an frühere Leben zu glauben, wenn die Menschheit im allgemeinen sich an nichts davon erinnern kann? - Man sollte lieber denken, wie viel erstaunlicher es wäre, wenn nach dem, was man vom Leben weiß, die Menschheit im allgemeinen schon jetzt sich ihrer früheren Leben erinnern könnte. Wenn wir uns fragen, was nötig ist, damit wir uns überhaupt an etwas erinnern können, so müßten wir antworten: Wir können uns nur dessen erinnern, was wir vorher gedacht haben.

Das alltägliche Leben kann uns dies lehren. Denken Sie sich, daß jemand seine Manschettenknöpfe nicht finden kann, wenn er des Morgens aufsteht. Er sucht sie überall, kann sie aber nicht finden. Warum kann er sie nicht finden? Weil er, während er sie weglegte,

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nicht an das gedacht hat, was er tat. Lassen Sie ihn das gegenteilige Experiment machen, lassen Sie ihn jeden Abend, während er seine Manschettenknöpfe weglegt, versuchen, sich klar bewußt zu sein: Ich lege meine Manschettenknöpfe an diesen Platz, - er wird sich dann nie irren, sondern wird gerade dahin gehen, wo er sie hingelegt hat. Der Gedanke ruft den Vorgang in seine Erinnerung zurück.

Wenn wir in einer zukünftigen Inkarnation leben, so werden wir uns nur dann an die vergangenen erinnern, wenn wir uns an die wahre Natur der Seele erinnern können, die fortdauert von einer Inkarnation zu der anderen. Derjenige, der im jetzigen Leben nicht okkulte Wissenschaft studiert, kann keine Erkenntnisse von der Beschaffenheit und Wesenheit der Seele erlangen, und wenn er diese Kenntnisse nicht hat, wie sollte er, wenn er wieder inkarniert ist, sich an das erinnern, woran er nie gedacht hat in der früheren Inkarnation?

Durch das Studium der Geisteswissenschaft, welches unter anderen Dingen das Studium der Wesenheit der Seele einschließt, bereiten wir in unserem Inneren dasjenige vor, was uns ermöglichen wird, in einer künftigen Inkarnation uns an das zu erinnern, was in dieser jetzigen geschehen ist. Es gibt jedoch gegenwärtig viele Menschen, die sich noch nicht dem Studium dieses Wissens widmen wollen. Diese werden wiedergeboren, vielleicht in der nächsten Inkarnation mit dem vorher erwähnten Organ für die Erinnerung an frühere Leben physisch ausgebildet, aber sie haben sich nicht so vorbereitet, daß sie sich an die Vergangenheit erinnern könnten.

Was für eine Bedeutung hat dann die Geisteswissenschaft noch im heutigen Leben zu all dem hinzu, was wir bereits gesagt haben? Durch sie erlangen wir die Möglichkeit, in der richtigen Weise das Organ zu gebrauchen, welches in den Menschen der Zukunft entwickelt wird, nämlich das Organ für die Erinnerung an frühere Erdenleben. In unserer jetzigen Inkarnation müssen wir die Erkenntnisse unserer Seele in die Akasha-Substanz einschreiben, um in unserer nächsten Inkarnation das Organ für die Erinnerung an die Vergangenheit in der richtigen Weise gebrauchen zu können, das Organ, welches sich im Menschen entwickelt, ob er will oder nicht.

Also in der Zukunft wird es Menschen geben, die das erwähnte Organ für die Erinnerung an

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frühere Erdenleben werden gebrauchen können, und andere, die es nicht werden gebrauchen können. In diesen letzteren werden gewisse Krankheiten sich zeigen, weil sie in ihrem physischen Leib ein Organ haben werden, welches sie nicht gebrauchen können. Ein Organ zu besitzen und unfähig sein, es zu gebrauchen, ruft nervöse Krankheiten von einer ganz bestimmten Art hervor, und diese Nervenerkrankungen, die dadurch entstehen werden, daß man dieses besondere Organ besitzt und es nicht gebrauchen kann, werden viel schlimmere sein als alle diejenigen, die der Mensch bis jetzt gekannt hat.

Wenn man auf diese Weise den Zusammenhang der Tatsachen betrachtet, fängt man an, eine Idee zu bekommen von der Mission der Geisteswissenschaft und von der wahren Bedeutung eines Verständnisses des Lebens und der Menschheit durch das Studium dieser Erkenntnis.

Aber für den Fall, daß der Eindruck, den diese Betrachtung auf Sie gemacht hat, zu Mißverständnissen führen sollte, will ich noch eine andere Tatsache erwähnen, welche das mildern kann, was peinlich an diesem Eindrucke war. Obgleich der wahre Okkultist sehen kann, daß die Geisteswissenschaft in das spirituelle Leben unserer gegenwärtigen Zeit eintreten muß, damit der Mensch der Zukunft das Organ für die Erinnerung gebrauchen könne und physisch in guter Gesundheit bleibe, so kann doch zu gleicher Zeit durchaus nicht behauptet werden, daß ein Mensch, der in der jetzigen Zeit nicht bereit ist, Geisteswissenschaft aufzunehmen, für seine folgende Inkarnation auf die vorher beschriebene Weise verloren sein wird. Es wird für lange Zeit in der Zukunft einem Menschen immer noch möglich sein, wenn er auch das Angedeutete vernachlässigt hat, nämlich in diesem Leben sich den Gebrauch des Organs für die Erinnerung anzueignen, dies im nächsten Leben gutzumachen, denn er wird noch einige Gelegenheiten haben, seine Gesundheit wiederherzustellen und geisteswissenschaftliche Wahrheiten zu erlangen. Aber die Zeit wird kommen, wo diese Möglichkeit aufhören wird.

Wenn wir auch noch nicht den bestimmten Augenblick erreicht haben, so leben wir doch in der Epoche der Menschheit, wo die Gei­steswissenschaft aus dem schon erwähnten Grunde in das geistige Leben der Menschheit eingegliedert werden muß, so daß sie eine notwendige

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Entwickelung im allgemeinen Fortschritt der Menschheit ist und nicht von den privaten Meinungen der einen oder der anderen Individualität herstammt. Und auf diese Weise wird, besonders in unserer Zeit, die Möglichkeit für die subjektive Entwickelung der Menschenseele gegeben sein, die sie zu einem persönlichen Schauen der geistigen Welten, zu einer okkulten Entwickelung führen wird. Und wir können sagen, daß jeder Mensch, der die ursprünglichen Kräfte innerhalb seiner Seele anwenden wird, ungestört von ahrimanischen Einflüssen alles verstehen kann, was uns aus den spirituellen Welten geoffenbart wird, und es ist deshalb in einem gewissen Sinn jedem Menschen möglich, sich in die geistigen Welten hinaufzuheben dadurch, daß er eine okkulte Entwickelung durchmacht.

 


 

In der Gegenwart können insbesondere drei Kräfte unserer Seele gut entwickelt werden, so daß eine okkulte Verbindung mit den übersinnlichen Welten stattfinden kann.

Die erste Kraft, die in der Menschenseele gut entwickelt werden kann, ist die Kraft des Denkens. Wir leben im Zusammenhang mit der Welt, die uns umgibt, dadurch, daß wir uns Gedanken über unsere Umwelt bilden. Im gewöhnlichen alltäglichen Leben denkt der Mensch Gedanken, die durch Sinneseindrücke oder durch den Intellekt, der an das Gehirn gebunden ist, verursacht werden. In meinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» werden Sie finden, wie ein Mensch durch Meditation, Konzentration und Kontemplation, durch die Erkraftung seines seelischen Lebens diese Kraft des Gedankens unabhängig vom äußeren Leben machen kann. Ich möchte Sie gerade hier darauf aufmerksam machen, wie man das, was innerhalb unserer Seele die Kraft des Gedankens ist, die sonst nur entwickelt wird dadurch, daß man sich Gedanken bildet über die äußere Welt, wie man das im wesentlichen frei und unabhängig machen kann von all dem, was dem Körper angehört. Das heißt, durch eine solche Entwickelung erlangt die Seele die Möglichkeit zu denken, Gedanken in sich selbst zu bilden, ohne vom Körper Gebrauch zu machen, ohne das Gehirn als Instrument zu benützen. Dies können wir gut verstehen, wenn wir betrachten, was das hauptsächlich

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Charakteristische des gewöhnlichen, alltäglichen Denkens ist, welches von den Eindrücken abhängig ist, die durch die Sinne ge­wonnen werden.

Das hauptsächliche Charakteristikum des gewöhnlichen Denkens ist, daß jede einzelne Betätigung des Denkens das Nervensystem beeinträchtigt, besonders das Gehirn; es zerstört etwas im Gehirn. Jeder alltägliche Gedanke bedeutet einen Zerstörungsprozeß im Klei­nen, in den Zellen des Gehirns. Aus diesem Grunde ist der Schlaf nötig für uns, so daß dieser Zerstörungsprozeß wieder gutgemacht werden kann. Während des Schlafes ersetzen wir das, was in unserem Nervensystem während des Tages durch das Denken zerstört wurde. Das, was wir bewußt wahrnehmen in einem gewöhnlichen Gedanken, ist in Wirklichkeit der Zerstörungsprozeß, der in unserem Nervensystem stattfindet.

Nun bemühen wir uns, die Meditation dadurch zu entwickeln, daß wir uns zum Beispiel der Betrachtung des Folgenden hingeben:

Die Weisheit lebt im Licht.

Diese Idee kann nicht von Sinneseindrücken herrühren, weil es den äußeren Sinnen nach nicht der Fall ist, daß die Weisheit im Licht lebt. In einem solchen Fall halten wir durch die Meditation den Gedanken so weit zurück, daß er sich nicht mit dem Gehirn verbindet. Wenn wir auf diese Weise eine innere Denktätigkeit entwickeln, die nicht mit dem Gehirn verbunden ist, werden wir durch die Wirkungen einer solchen Meditation auf unsere Seele fühlen, daß wir auf dem rechten Wege sind.

Da wir bei dem meditativen Denken keinen Zerstörungsprozeß in unserem Nervensystem hervorrufen, macht uns ein solches meditatives Denken nie schläfrig, wenn es auch noch so lange fortgesetzt wird, was unser gewöhnliches Denken leicht tun kann. Es ist wahr, daß oft gerade das Gegenteil eintritt, wenn man meditiert, denn die Menschen beklagen sich oft, daß sie, wenn sie sich der Meditation hingeben, sofort einschlafen. Aber das kommt daher, daß die Meditation noch nicht vollkommen ist. Es ist ganz natürlich, daß wir in der Meditation zunächst die Art des Denkens benutzen, an die wir sonst immer gewöhnt waren. Nur nach und nach gewöhnen wir

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uns daran, mit dem äußeren Denken aufzuhören. Wenn wir dieser Punkt erreicht haben, dann wird das meditative Denken uns nicht mehr schläfrig machen, und so werden wir wissen, daß wir auf dem rechten Wege sind.

Wenn die innere Kraft des Denkens so entwickelt wird, ohne daß die Denkkraft den äußeren Körper benutzt, dann werden wir eine Kenntnis des inneren Lebens erlangen, werden unser wahres Selbst erkennen, unser höheres Ich. Den Weg zu der wahren Kenntnis des menschlichen Selbst findet man in der Art von Meditation, die eben beschrieben worden ist, die zu der Befreiung der inneren Denkkraft führt. Nur durch solche Erkenntnis gelangt man dahin, zu sehen, daß dieses menschliche Selbst nicht innerhalb der Grenzen des physischen Körpers gebunden ist.

Man lernt im Gegenteil einsehen, daß dieses Selbst mit den Erschei­nungen der Welt um uns her verbunden ist. Während wir im gewöhnlichen Leben die Sonne hier sehen und dort den Mond, dort die Berge, Hügel, Pflanzen und Tiere, fühlen wir uns jetzt mit allem, was wir sehen und hören, verbunden, wir sind ein Teil davon, und für uns gibt es dann nur eine äußerliche Welt, und das ist unser eigener Körper. Während wir im gewöhnlichen Leben hier sind und die äußere Welt um uns herum, sind wir nach der Entwickelung der unabhängigen Denkkraft außerhalb unseres Körpers eins mit dem, was wir sonst sehen, und unser Körper, in dem wir sonst darinnen sind, ist außerhalb unser selbst. Wir schauen darauf zurück, er ist jetzt die einzige Welt geworden, auf die von außen wir blicken können.

Auf diese Weise kann man durch die Befreiung der Denkkraft wirklich aus seinem physischen Leibe herauskommen und denselben als etwas Äußerliches betrachten.

Man kann sogar noch mehr tun. Man kann zum Beispiel auf eine positive Weise die Frage beantworten: Warum wachen wir jeden Morgen auf? Während des Schlafes liegt unser physischer Leib im Bette, und wir sind tatsächlich außerhalb desselben, genauso, wie es der Fall ist während des meditativen Denkens. Beim Erwachen kehren wir zu unserem physischen Körper zurück, weil wir zu demselben durch Hunderte und Tausende von Kräften zurückgezogen werden wie von einem Magnet. Hiervon weiß der

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Mensch gewöhnlich nichts. Aber wenn er sich befreit hat durch die Meditation, dann wird er bewußt zurückgezogen durch dieselbe Kraft, die im vorigen Fall seine Seele beim Erwachen unbewußt in seinen physischen Körper zurückzieht.

Wir lernen auch durch eine solche Meditation, wie der Mensch heruntersteigt aus den höheren Welten, worin er zwischen Tod und neuer Geburt gelebt hat, und wie er sich mit den Kräften und Substanzen verbindet, die ihm gegeben werden durch Eltern und Großeltern und so weiter. Kurz, wir lernen die Kräfte kennen, die die Menschen zwischen Tod und neuer Geburt in eine neue Inkarnation zurückziehen.

Als ein Ergebnis einer solchen Meditation kann man zurückschauen auf einen großen Teil des Lebens, welches vor der Geburt, vor der Empfängnis, zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt zugebracht wurde. Aber durch die Meditation, die eben beschrieben worden ist, kann man meistens nur bis zu einem gewissen Punkt zurückschauen, der vor der letzten Inkarnation liegt; man könnte durch diese Meditation nicht weiter zurückschauen bis in frühere Inkarnationen.

Um in der Gegenwart auf frühere Inkarnationen zurückzuschauen, solange das vorher erwähnte Organ noch nicht im menschlichen Gehirn gebildet worden ist, ist eine andere Art von Meditation nötig als die Meditation im Denken, die wir eben beschrieben haben. Diese andere Meditation kann nur zustandekommen, wenn das Gefühl in den Gegenstand der Meditation gebracht wird. Alles, was eben beschrieben worden ist als Meditation, kann von dem, der meditiert, auch mit dem Gefühl durchdrungen werden.

Wir wollen jetzt diesen Inhalt der Meditation betrachten, der in der Meditation selbst von Gefühl und Empfindung durchdrungen werden muß. Wenn wir zum Beispiel als Inhalt nehmen:

Die Weisheit erstrahlt in dem Licht,

und wir fühlen uns inspiriert durch das Erstrahlen der Weisheit, wenn wir uns erhoben fühlen, wenn wir innerlich durchglüht sind von diesem Inhalt, wenn wir mit enthusiastischen Gefühlen darin leben und darüber meditieren können, dann haben wir etwas mehr vor unseren

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Seelen als Meditation in Gedanken. Die Kraft, die wir dann in der Seele benützen als Kraft der Empfindung, ist diejenige, die wir sonst in der Sprache benützen. Sprache wird hervorgebracht, wenn wir unsere Gedanken mit innerlichem Gefühl, mit innerlicher Empfindung gründlich durchdringen. Dies ist der Ursprung der Sprache, und Brocas Organ im Gehirn wird auf diese Weise hervorgebracht: die Gedanken des inneren Lebens, die von innerlicher Empfindung durchdrungen sind, werden tätig im Gehirn und bilden auf diese Weise das Organ, welches das physische Instrument der Sprache ist.

Wenn wir so meditieren, wenn unsere Meditation wirklich von solchen Gefühlen durchdrungen ist, dann halten wir in unseren Seelen jene Kraft zurück, die wir im täglichen Leben im Sprechen benützen. Wir können sagen, daß die Sprache die Verkörperung der inneren Seelenkraft ist, welche diese von Gefühl durchdrungenen Gedanken ausdrückt.

Wenn wir nun, statt daß wir der Seelenkraft erlauben, in der Sprache hervorzutreten, Meditation aus diesen von Gefühl durchdrungenen Gedanken entwickein, wenn wir immer weiter und weiter mit dieser Meditation fortfahren, dann gewinnen wir allmählich die Fähigkeit - sogar jetzt ohne das physische Organ -, durch Initia­tion zurückzuschauen in frühere Erdenleben und auch die Zeit zwischen den Erdenleben zu erforschen, die Zeit, welche immer zwischen Tod und neuer Geburt liegt.

Durch solche Ausbildung des Zurückhaltens der Sprache innerhalb der Seele, oder wie der Okkultist sagt, durch das Zurückhalten des «Wortes» innerhalb der Seele, können wir zurückschauen zum Urbeginn unserer Erde, zurück zu dem, was die Bibel den Schöpfungsakt der Elohim nennt. Wir können zurückschauen bis in die Zeit, wo die wiederholten Erdenleben für die Menschheit anfingen.

Denn die okkulte Entwickelung, die wir dadurch erreichen, daß wir das Wort zurückhalten oder die Sprache zurückhalten, befähigt uns, in die sich folgenden Zeitperioden hineinzuschauen, insofern sie mit unserer Erde, mit dem spirituellen Leben unseres Erdenplaneten verbunden sind. Wir werden fähig, die Wesenheiten der höheren Hierarchien zu schauen, insofern sie mit dem spirituellen Leben der Erde ver­bunden sind.

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Aber diese beiden Kräfte des Hellsehens, die in der Meditation durch Gedanken und durch vom Gefühl durchdrungene Gedanken entwickelt werden, können uns nicht zu Erlebnissen führen, welche vor der Zeit der jetzigen Erde liegen, zu Erlebnissen, welche mit früheren planetarischen Inkarnationen unserer Erde verknüpft sind. Hierfür ist die dritte meditative Kraft nötig, von welcher wir jetzt kurz sprechen wollen.

Wir können weiterhin den Inhalt unserer Meditation mit den Impulsen des Willens auf eine solche Weise durchdringen, daß, wenn wir meditieren zum Beispiel über

Die Weisheit der Welt erstrahlet im Lichte,

wir jetzt wirklich fühlen können, ohne es äußerlich zu wollen, den Impuls unseres Willens verbunden mit jener Tätigkeit. Wir können unser eigenes Wesen mit der ausstrahlenden Kraft des Lichtes verbunden fühlen und können dieses Licht strahlen und vibrieren lassen durch die Welt. Wir müssen den Impuls unseres Willens mit dieser Meditation verbunden fühlen.

Wenn wir auf eine solche Weise meditieren, daß unsere Meditation mit Impulsen des Willens erfüllt wird, so halten wir elne Kraft zurück, die sonst in die Pulsation des Blutes übergehen würde. Sie können leicht beobachten, daß das Leben unseres inneren Ich in das Pulsieren des Blutes übergehen kann, wenn Sie sich daran erinnern, daß wir blaß werden, wenn wir uns fürchten, und erröten, wenn wir uns schämen. Das ist der Übergang der Seelenkraft in das Pulsieren des Blutes. Wenn diese selbe Kraft, die das Blut beeinflußt, so in Tätigkeit tritt, daß sie nicht in das Physische hinuntersteigt, sondern nur in der Seele bleibt, dann fängt diese dritte Meditation an, die wir durch Willensimpulse beeinflussen können.

  1. Derjenige, der diese drei Formen der okkulten Entwickelung durchmacht, fühlt, wenn er nur Denkkraft freimacht, als ob er ein Organ an der Nasenwurzel hätte. Dieses Organ wird als Lotusblume beschrieben, durch welches er dieses Ich oder Selbst bemerken kann, das weit in den Raum ausgedehnt ist.
  2. Derjenige, welcher durch Meditation Gedanken, durchdrungen von [28] Gefühlen, entwickelt hat, wird sich allmählich durch diese entwickelte Kraft, die sonst Sprache geworden wäre, der sogenannten sechzehnblättrigen Lotusblume in der Gegend des Kehlkopfes bewußt. Mit Hilfe dieser sogenannten Lotusblume kann er das begreifen, was mit zeitlichen Dingen vom Anfang der Erde bis ans Ende derselben verbunden ist. Durch dieses Organ lernt man auch in Wirklichkeit die okkulte Bedeutung des Mysteriums von Golgatha erkennen, von welcher wir in unserem nächsten Vortrag sprechen werden.
  3. Durch die zurückgehaltene Seelenkraft, die im normalen alltäglichen Leben sich bis in das Blut und seine Pulsation ausdehnen würde, wird ein Organ in der Gegend des Herzens entwickelt, das in meinem Buch «Die Geheimwissenschaft im Umriß» beschrieben wird und durch welches man die Evolution verstehen kann, die man im Okkultismus als Saturn, Sonne und Mond bezeichnet, die früheren Inkarnationen unserer Erde.

Sie sehen also, daß nicht behauptet wird, okkulte Entwickelung werde gewonnen durch eine Unmöglichkeit oder durch das, was nicht existiert, sondern durch das, was wirklich vorhanden ist innerhalb der menschlichen Seele.

  1. Die erste okkulte Kraft, die erwähnt worden ist, stammt aus einer höheren Entwickelung der Denkkraft, jener Kraft, die sonst nur an­gewendet wird für Gedanken, die mit der äußeren Welt verknüpft sind.
  2. Die zweite Kraft, von der wir gesprochen haben, ist nur eine höhere Entwickelung dessen, was im alltäglichen Leben von jedem menschlichen Wesen durch den Körper in der Sprache äußerlich angewandt wird in der Entwickelung des Organes für das Wort.
  3. Die dritte Kraft ist eine höhere Ausbildung dessen, was sonst in der menschlichen Seele vorhanden ist, um zu veranlassen, daß das Blut schneller oder langsamer pulsiert, um eine größere oder kleinere Blutmenge zum einen oder anderen Organ des Leibes hinzuleiten, mehr nach der Mitte, wenn wir blaß werden, mehr nach der Oberfläche, wenn wir erröten, mehr oder weniger nach dem Gehirn und so weiter.

Wenn der Mensch diese Kräfte ausbildet, die in ihm vorhanden

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sind, die aber im gewöhnlichen Leben nur für sein äußerliches körperliches Dasein gebraucht werden, dann beginnt die okkulte Entwickelung. Und das, was durch okkulte Entwickelung erkannt werden kann, kann heute von jedem Menschen verstanden und erfaßt werden, der die Hindernisse zum Verständnis wegräumen will.

Das, was durch okkulte Entwickelung gelernt werden kann, ist okkulte Wissenschaft, und in unserem jetzigen Menschheitszyklus muß okkulte Wissenschaft in die menschliche Seele hineinfließen, so daß diese menschliche Seele ihr eigenes Wesen kennenlernen möge, welches unabhängig ist von dem Körper. Die Formen all der Substanzen, die in der äußeren Welt sind, wie Erde, Wasser, Luft und so weiter, vergehen, die Formen der Akasha-Substanz dauern fort. Unsere Seele muß sich durch ihr inneres Leben mit der Akasha-Substanz verbunden fühlen, und in zukünftigen Zeiten wird sie den Wunsch haben, sich an das zu erinnern, was sie in der Gegenwart erlebt. Die Möglichkeit, Ideen und Begriffe zu erlangen, die zu solcher Erinnerung führen können, ergibt sich aus dem Studium der okkulten Wissenschaft, das nur möglich ist, wenn die Erkenntnis, die durch die okkulte Entwickelung erlangt wird, verbreitet und angenommen wird.

Deshalb habe ich in diesem ersten Vortrag versucht, Ihnen klarzumachen, wie durchaus nötig die Verbreitung der okkulten Erkenntnis ist, und den Hinweis auf den Weg zu der okkulten Entwickelung hinzugefügt den Impulsen, die der Entwickelung der Menschheit zugrunde liegen. Nicht durch Worte, gegründet auf gewöhnliche menschliche Betrachtungen, habe ich versucht, die Mission der Geisteswissenschaft klarzulegen, sondern durch die Betrachtung der Tatsachen, die selbst das Ergebnis okkulter Forschung sind. Wer diese Tatsachen auf seine Seele wirken läßt, wird begreifen, daß für denjenigen, der die volle Bedeutung dieser Tatsachen versteht, es unmöglich ist, die Notwendigkeit der Verbreitung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse in der jetzigen Zeit zu leugnen. Man braucht durchaus nicht fanatisch zu werden, um die Notwendigkeit der entsprechenden Ausbildung anzuerkennen, man braucht nur die Tatsachen zu verstehen, die dem okkulten Leben des Menschen zugrunde liegen.


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Und wir können sagen, daß es eigentlich nur Unkenntnis dieser Tatsachen sein kann, die die Menschheit noch von dem anthropo­sophischen Leben fernhält. Deshalb wird unter den geistigen Bewegungen unserer Zeit die Geisteswissenschaft, wie sie hier verstanden wird, die am wenigsten fanatische und diejenige sein, die am meisten von objektiven Betrachtungen ausgeht. Es ist besonders nötig, immer wieder zu erwähnen, daß alle solchen Theorien, alle solchen Lehren sich schließlich vereinigen müssen innerhalb der anthroposophischen Kreise in einem fundamentalen lebendigen Gefühl.

Es gibt ein objektives geistiges Leben, dessen Spiegelung in der Welt der Maja das Leben ist, von welchem wir umgeben sind. Okkulte Entwickelung ist das Heraustreten aus der Welt der Maja und das Eintreten mit den besten Kräften unseres Ich in die Welt der geistigen Wirklichkeit. Jeder Schritt den wir in okkulter Erkenntnis und okkulter Entwickelung machen, ist ein Schritt vom Schein zu der Wirklichkeit. Und weil ein echtes Verständnis dieser Tatsache zu nichts anderem führen kann als zu dem Impulse, diese Schritte wirk­lich zu machen, wird das Schicksal der Geisteswissenschaft gesichert sein, weil immer mehr und mehr Seelen den Wunsch haben werden, die Wahrheit über den Weltengeist objektiv zu erkennen.

Das anthroposophische Feuer, welches in uns entfacht werden kann, ist nur ein Ergebnis des universellen kosmischen Feuers, welches geistig vom Anfang bis zum Ende ausströmt. Dies ist es, was ich Ihnen gerne sagen wollte in diesem ersten Vortrage über die Mission der anthroposophischen Bewegung im geisti­gen Leben der Gegenwart.