Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 152 Vorstufen zum Mysterium von Golgatha

Der Michael-Impuls und das Mysterium von Golgatha (1) Stuttgart, 18. Mai 1913

Der Michael-Impuls und das Mysterium von Golgatha (1)

Bei meiner letzten Anwesenheit hier unter Ihnen konnte ich Ihnen in zwei Betrachtungen einiges darlegen über das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Dazumal war also der Gesichtspunkt gewählt worden, die ganze Wichtigkeit und Bedeutung einer Erkenntnis des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt ins Auge zu fassen, weil die Kräfte und Wesenheiten, mit denen der Mensch da zusammenkommt, hineinragen in unser Leben, das verläuft zwischen Geburt und Tod.

Heute soll zunächst von allerlei die Rede sein, welches uns die große Mission anthroposophischer Weltanschauung aus dem ganzen Charakter unserer gegenwärtigen Kulturepoche herausholen kann. Wir stehen in der Tat - ich habe das öfter betont und davon eingehender gesprochen - in einem wichtigen Abschnitt der menschlichen Erdenentwickelung, und ich habe öfters betont, daß, wenn man ja bei oberflächlicher Betrachtung der Menschheitsevolution der Erde gar oftmals jedes Zeitalter ein Übergangszeitalter nannte, so muß man unser Zeitalter vielleicht nicht gerade ein Übergangszeitalter, aber ein bedeutungsvolles Zeitalter für die ganze Entwickelung der Menschheit nennen.

Ein erster Gesichtspunkt, den ich heute vor Sie hinstellen will, ist der, den ich oft schon erwähnt habe, daß Anthroposophie, von der wir wissen, daß sie heute in das menschliche Kulturleben durch Notwendigkeiten der Erdenentwickelung sich hineinleben muß, daß Anthroposophie, wenn auch ihre Ergebnisse nur erforscht werden können von der geschulten Seele des Geistesforschers, doch von jeder Menschenseele, die nur will, die nur Unbefangenheit genug der Sache entgegenbringt, verstanden werden, begriffen werden kann.

Da kann natürlich gleich eingewendet werden: Ja, aber es gibt doch nur wenige Menschen, die das Bewußtsein haben, daß ihnen wahr zu sein scheint das, wovon die Anthroposophie spricht. Und die Mehrzahl

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der Menschen betrachtet das, was von der Geisteswissenschaft, der Geistesforschung kommt, als Phantasterei, als Träumerei, wenn nicht gar noch - nun wir haben ja gestern gehört - als eine der sieben Sekten des Verderbens.

Was liegt da eigentlich zugrunde? Kann gegenüber der Tatsache, daß noch eine Menge Menschen der Gegenwart sich findet, die sagen: Ja, wir können Anthroposophie nicht verstehen, sie erscheint uns eben als Phantasterei, - kann demgegenüber aufrechterhalten werden die Tatsache, daß diese Wahrheit, die von wenigen verstanden wird, doch für den unbefangenen Menschensinn erkennbar ist?

Ich habe in dem gestrigen öffentlichen Vortrage auseinandergesetzt, wodurch man zu übersinnlichen Erkenntnissen kommen kann, daß man gewisse Kräfte der Seele frei machen kann von ihrem Eingreifen in das Leibliche, wie die erwähnten Denk-, Sprach- und Willenskräfte frei werden können, sich emanzipieren können vom Körperlichen, so daß sie rein im Seelischen, im Geist-Seelischen wirken können, und daß sie dann die Kräfte sind, welche sich eben ausbilden durch Meditation, Konzentration und Kontemplation, die dann eindringen in die übersinnlichen Welten. Alle die Kräfte, die befähigen, einzudringen in die übersinnlichen Welten, kommen davon, daß der Mensch seine Seele loslösen kann von alledem, womit der Mensch im Leiblichen verbunden ist. Also in den Erkenntniskräften, mit denen die übersinnlichen Welten erforscht werden können, haben wir es mit leibfreien Kräften zu tun.

Nun gibt es aber im ganz alltäglichen Leben eine Seelenkraft, welche in einer gewissen Weise schon in sich hat, was mit den anderen Seelenkräften angestrebt wird bei der Geistesforschung, und diese Seelenkraft ist die Denkkraft, wie sie sich äußert im gewöhnlichen, unbefangenen, gesunden Menschenverstand. Diese gewöhnliche Denkkraft nämlich, sie kann unter gewissen Voraussetzungen, ohne daß sie weiter entwickelt wird, selber schon als etwas Leibfreies sich darstellen. Mit diesem Denken hat es nämlich folgende Bewandtnis. Dieses Denken, das also jede Seele heute in sich als eine Kraft haben kann, hat gewissermaßen zwei Gesichter, ist ein Januskopf.

Dieses Denken

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ist entweder vom Gehirn abhängig, bringt nur dasjenige als Gedanken zum Bewußtsein, was sich im Gehirn, im Nervensystem spiegelt. Dann ist dieses Denken mehr passiv, ist ein solches Denken, das sich anlehnen will an das Instrument des Gehirns. Oder aber dieses Denken kann sich schon einfach - ohne irgendwelche Meditation - durch inneres Aufrufen, dadurch daß es seiner selbst in seiner wahren Wesenheit sich bewußt wird, daß es sich losreißen will von der Anlehnung an das Gehirn, freimachen: dann ist es ein mehr aktives Denken.

Beides sind Seiten des gesunden, gewöhnlichen Denkens, wie es heute jede Seele haben kann. Denken ist in jeder Seele, aber es kann in zweierlei Weise benutzt werden. Der Mensch kann es in sich selber erschaffen, kann in sich selber Gedanken prägen. Dann ist dieses Denken in seiner Aktivität, so daß es voll entgegenkommt allem, selbst den scheinbar gewagtesten Behauptungen der Geistesforschung.

Wenn aber dieses Denken sich nicht erkraften will, nicht in seiner Aktivität sich erfassen will, dann muß es sich anlehnen an das Instrument des Denkens, das Gehirn, dann bringt es überhaupt nur Gedanken hervor, die mit dem Instrument des Gehirns erfaßt werden, dann denkt der Mensch nicht aktiv, dann denkt er passiv.

Richtiger erfaßt als jede andere - allerdings nicht für die unmittelbare Gegenwart, sondern für die Zukunft - ist die Einteilung in aktive Denker und passive Denker. Diejenigen, die etwas von selbständigem, innerlich freiem Denken in sich erkraften, die aktiv denken können, werden schon durch den Trieb dieses Denkens herzugedrängt zu der geisteswissenschaftlichen Forschung. Diejenigen, die nicht tätig denken wollen, sondern nur in Abhängigkeit vom Gehirn, werden sagen, die anthroposophische Forschung ist Phantasterei, weil sie keinen Begriff haben von dem, was in einem freien Denken erfaßt werden kann, weil sie hingegeben sein wollen an das Instrument des Gehirns. So daß man sagen kann, daß sie nicht in sich selbst denken wollen, nur in sich für sich selber denken lassen.

Gerade unter diesem Gesichtspunkte ist die Anhängerschaft, das Verhalten gegenüber der anthroposophischen Weltanschauung heute im Grunde genommen eine Sache der inneren Emsigkeit, des inneren Erkraftens oder der inneren Bequemlichkeit, der inneren Faulheit. Das

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Denken, das emsig sein will, sich erkraften will, das begreift die Ergebnisse der Geisteswissenschaft; das Denken, das sich der Krücke bedienen will, des Instruments, das bloß im Spiegelbild des Gehirns sich die Gedanken zum Bewußtsein bringen will, das ist bequem, das will in sich nur denken lassen, das wird die anthroposophische Forschung aus Bequemlichkeit ablehnen müssen. Und alle Philosophien und alle Schreibereien, welche in die Welt hinauslaufen und scheinbar wissenschaftlichen und geistvollen Charakter annehmen und sagen, daß man nicht begreifen könne, was anthroposophische Forschung zustande bringen kann, das beruht auf einer zunächst unbewußten, aber tief innerlichen Bequemlichkeit des menschlichen Denkens, das nicht aktiv werden, sondern passiv bleiben will. Bequem ist die Anhängerschaft zur anthroposophischen Weltanschauung nicht.

Das ist im Grunde genommen die Wahrheit über die Sache. Und wenn Sie in Versammlungen kommen, die sich ja heute nicht mehr materialistisch nennen, die sich monistisch vielleicht nennen und die sich auslassen über die «Phantastereien» der Geisteswissenschaft, so liegt da manches andere zugrunde, als was in diesen Versammlungen gesprochen wird. Da liegt zugrunde das Unvermögen, zum aktiven Denken fortzuschreiten, da liegt ferner die Anmaßung zugrunde - weil man selber sich nicht zum aktiven Denken aufraffen will -, die Bequemlichkeit des passiven Denkens zum obersten Grundsatz der menschlichen Forschung zu machen.

Bequemlichkeit von Seelenkräften führt ja schon im gewöhnlichen Leben zuweilen zu etwas, was öfter zu beobachten ist. Wenn jemand sich eine öffentliche Rede anhören will und zu bequem ist, mit den Ausführungen mitzugehen, schläft er nach und nach ein und verschläft dasjenige, was eigentlich in seiner Absicht war zu erfahren, vielleicht auch nicht in seiner Absicht war zu erfahren. Mit einem solchen Verschlafen eines notwendigen Entwickelungsimpulses der Menschheit wird man es zu tun haben bei allen denjenigen, die sich nicht aufraffen können zu einem aktiven Denken in der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Verschlafen wird man ein Allerwichtigstes. Denn, wenn auch diese oder jene Menschen nichts davon wissen wollen, hinter dem, was sich abspielt in unserer Sinnenwelt, liegen die übersinnlichen

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Wesenskräfte, auch durchaus die übersinnlichen Vorgänge. Deshalb, weil ein Teil der Menschheit verschlafen will, was eigentlich geschieht, werden sich doch die übersinnlichen Vorgänge abspielen. Mit einem wichtigen Vorgange haben wir es in unserer gegenwärtigen Epoche zu tun! Und alle sinnlichen Vorgänge sind die äußeren Ausgestaltungen von übersinnlichen Vorgängen. Wenn wir sozusagen das Netz durchhauen, welches sich als sinnliche Vorgänge der Entwickelung unserer Epoche darbietet, dann kommen wir hinter diesen Schleier zu den übersinnlichen Vorgängen. Und um sie, die übersinnlichen Vorgänge, zu charakterisieren, die jetzt gerade wichtig sind, wollen wir uns daran erinnern, daß alles Leben im Weltenall auf einer sich steigernden Entwickelung beruht.

Verfolgen wir den Entwickelungsweg des Menschen, so finden wir ihn zunächst, seiner ersten Anlage nach, in der alten Saturnzeit. Wir finden ihn dann mit einem neuen Element durchsetzt in der alten Sonnenzeit, noch weiter ausgebildet in der alten Mondenzeit und mit dem vierten Element, dem Ich, in der Erdenzeit. Und wir wissen ja, daß seine Seelenkräfte in der Jupiterzeit eine solche Gestaltung annehmen werden, daß er sich mit den Wesenheiten der Hierarchie der Angeloi vergleichen läßt.

So wie nun der Mensch in seiner Entwickelung fortschreitet und hinaufsteigt, so schreiten aber auch die anderen Wesenheiten der ein­zelnen Hierarchien von niederen Stufen zu höheren Stufen. Nicht nur die menschliche Hierarchie unterliegt einer solchen sich noch steigernden Entwickelung, sondern auch die über den Menschen stehenden Hierarchien.

Nehmen wir unter diesen Hierarchien die eine, zwei Stufen höherstehende als der Mensch, die Hierarchie der Archangeloi, der Erzengel. Nun habe ich schon gestern gesagt, man nimmt es heute im allgemeinen von mancher verständigen Seite nicht übel, wenn man vom Geist im allgemeinen redet. Wenn man aber eingeht auf Klassen, Ordnungen, Individuen, wie man es doch bei Pflanzen, Tieren und anderen Bereichen in der Naturwissenschaft tut, dann nimmt es der heutige Kulturmensch sehr übel. Dennoch muß man es, wenn man es im Konkreten mit der geistigen Welt zu tun haben will.

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Wenn Sie jenen Vortragszyklus, den ich in Kristiania gehalten habe über die Entwickelung von Volksstämmen, in die Hand nehmen, so sehen Sie, daß die Entwickelung von Volksstämmen mit der Hierarchie der Erzengel zusammenhängt. Die aufeinanderfolgenden Epo­chen unterstehen den Urkräften, den Archai, den Geistern der Persönlichkeit.

Wenn wir nun die wichtigsten Wesenheiten aus der Reihe der Archangeloi nehmen, so haben wir Namen, die uns auch sonst begegnen, die wir auch gebrauchen können wie andere Namen: Raphael, Gabriel, Michael und so weiter.

Diese Wesenheiten können wir mit solchen Namen benennen, denn der Name ist ja gar nicht das Wesentliche. Wir benennen sie, wie wir eben andere Dinge auch mit Namen nennen. Das spielt eine gewisse Rolle in dem, was wir als Tatsachen der übersinnlichen Entwickelung finden. Von dieser übersinnlichen Entwickelung ist aber unsere sinnliche Entwickelung abhängig. Wir können tatsächlich ganz gut wissenschaftlich unterscheiden zwischen den einzelnen Wesenheiten aus der Hierarchie der Archan­geloi. Nicht abstrakt durch bloßes Namen-Hinpfahlen, sondern wir können unterscheiden so, daß wir die hauptsächlichsten Kulturimpulse, die sich äußerlich in der sinnlichen Welt auf einem Fleck der Erde zum Beispiel in den ersten christlichen Jahrhunderten ergeben, von einer anderen Wesenheit beherrscht sehen als die, welche die hauptsächlichsten Kulturimpulse bei den leitenden Völkern, sagen wir im 12. und 13.Jahrhundert, beherrschte, und die, welche unsere Kulturentwickelung beherrscht.

Bleiben wir zunächst bei dem, was für unsere Kulturentwickelung in Betracht kommt. Da haben wir deutlich zu unterscheiden zwischen dem Charakter desjenigen Zeitalters, das etwa im 15., 16.Jahrhundert begonnen hat, das seine hauptsächliche Signatur hat von dem Aufkommen der neuen Naturwissenschaften, das die Naturwissenschaften bis zu jener Größe gebracht hat, die uns im 19. Jahrhundert entgegentritt und die nicht genug bewundert werden kann.

Wenn man diese Jahrhunderte der naturwissenschaftlichen Arbeit der gesamten Menschheit ins Auge faßt, dann muß man sagen, sie ist

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geführt worden von gewissen Völkerschaften, die gelenkt wurden aus der übersinnlichen Welt heraus von einem garnz bestimmten Wesen aus der Hierarchie der Archangeloi, und dieses Wesen unterscheidet sich ganz genau von dem Wesen, das jetzt unsere beginnende geistige Kulturepoche von der übersinnlichen Welt aus leitet. Wenn man Namen, die im Abendland gebräuchlich geworden sind, für diese leitenden Wesenheiten aus der Hierarchie der Archangeloi geben will, kann man sagen: Seit der Christus-Zeit her waren verschiedene Wesenheiten leitend für die fortschreitende Kultur. Ohne auf diese Namen pochen zu wollen, will ich eben die Namen einer Reihe von Wesenheiten aus der Hierarchie der Erzengel aufzählen, wie man Namen von Menschen nennt, die an irgend etwas teilhaben auf dem physischen Plan, einer Reihe von Wesenheiten aus der Hierarchie der Archangeloi, die beherrscht haben die fortschreitende Kultur:

Gabriel war der leitende Geist in derjenigen Kulturperiode, die eben abgelaufen ist für die geistige Welt mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Denn in der Tat beginnt mit diesem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts - und dies wird immer mehr hervortreten - eine Epoche, in welcher ganz andere Einflüsse und Impulse aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche hineinströmen. Während in der ver­flossenen Epoche die Menschenseelen gebunden waren an das, was die Sinne schauen, der Verstand begreifen kann, werden die Menschen der kommenden Zeit, welche die fortschreitende Entwickelung nicht verschlafen wollen, vorzugsweise zu beachten haben, wie immer mehr übersinnliche Weisheit und Erkenntnisse hereindringen werden aus den übersinnlichen Welten in die irdische sinnliche Entwickelung.

Äußerlich gesprochen könnte man etwa so charakterisieren: In der abgelaufenen Entwickelung hatten die übersinnlichen Wesen genug damit zu tun, die Kräfte, die hereinfließen können aus den übersinnlichen Welten, möglichst hinzulenken auf den irdisch-physischen Leib. Es hatten die Hierarchien damit zu tun, daß die Kräfte nicht hineinfließen in die Seelen. Von jetzt an werden die übersinnlichen Kräfte so gelenkt und geleitet von der übersinnlichen Welt aus, daß möglichst viel hineinfließen

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kann in die Menschenseele, so daß ein Wissen von Imagination, Inspiration, Intuition die Menschenseele wird ergreifen können. So bar allen inspirierten Wesens, aller Erkenntnisse des Geistigen das abgelaufene Zeitalter war, so erfüllt von inspiriertem, von intuitivem Wesen werden die wirklich lebendigen Kulturimpulse der folgenden Zeit sein.

Unmöglich wäre es gewesen, vor fünfzig Jahren dasjenige zu Menschen zu sprechen, was durch den notwendigen Gang der Weltenentwickelung heute zu Ihnen gesprochen werden kann, weil es damals unmöglich gewesen wäre, unmittelbar aus den geistigen Welten diese Dinge herunter zu bekommen. Das Tor ist erst jetzt geöffnet worden. Und wie die verflossenen Zeiten am günstigsten für die Verstandesentwickelung waren, so wird die nächste Zeit am günstigsten sein für die Entwickelung der Inspiration und Intuition.

Hart aneinander stoßen zwei Zeitalter: Eines, das abgeneigt war aller Inspiration, und eines, in dem zwar mächtige Kräfte mit allen Mitteln ankämpfen werden gegen alle Inspiration, in dem aber die Möglichkeit sein wird, die Inspiration aufzunehmen, sie zum Ton­angebenden zu machen in den Menschenseelen.

Und wenn wir in die Sache weiter hineinschauen, so entdecken wir, daß die übersinnlichen Kräfte, die nicht unmittelbar hineingeflossen sind in die Menschenseelen im abgelaufenen Zeitalter, nicht etwa untätig waten. Das, was eine äußere Physiologie nicht konstatieren kann, ist doch Wahrheit: Im Zeitalter des Gabriel ist auch gearbeitet worden von der übersinnlichen Welt aus in die sinnliche hinein. Diese Arbeit ist geleistet worden am physischen Leib des Menschen. Innerhalb des Vorderhirns entstanden in dieser Zeit feine Strukturen, die nach und nach in das Fortpflanzungssystem eingepflanzt sind, wodurch die Menschen zum großen Teil mit solchem Gehirn geboren werden, welches andere, feinere Strukturen hier am Vorderhirn hat, als es in den andern Zeitaltern, im 12. und 13. Jahrhundert noch der Fall war.

Das war die Aufgabe des Zeitalters, in dem die Menschen den Sinn lenkten auf das Physisch-Sinnliche, abgeschlossen waren gegen das Inspirierte, daß in die Leiblichkeit hinein sich die Impulse der übersinnlichen

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Welt ergossen und diese feine Struktur im Gehirn ausbildeten.

Und immer mehr und mehr wird diese Struktur da sein bei denen, die jetzt sich fähig fühlen werden, zum aktiven Denken und zum Ver­stehen der Geisteswissenschaft fortzuschreiten. Und dann werden in unserer Epoche, in derjenigen Epoche, an deren Anfang wir eigentlich erst stehen, die übersinnlichen Kräfte nicht verbraucht, um Strukturen im Gehirn zu bilden, sondern um unmittelbar in die Seelen einzufließen, durch Imagination und Inspiration zu wirken, einzufließen in die menschlichen Seelen. Das ist das Michael-Regiment.

Es unterscheiden sich zwei Wesenheiten der Archangeloi so, daß derjenige, der geleitet hat den Menschen unmittelbar vor unserem Zeitalter, gearbeitet hat an dem Bau des Gehirns, und daß derjenige, der nun arbeitet an dem Menschen, hineinzuströmen hat die menschliche Seelenempfängnis für spirituelle Weisheit. So grenzen wir voneinander ab die Wesenheiten, welche der Hierarchie der Archangeloi angehören.

An diesen zwei Beispielen versuchte ich, Ihnen gleichsam konkrete Eigenschaften, Charaktereigenschaften dieser Wesenheiten hinzustellen. Nicht mit Namen wollen wir uns begnügen; denn, wie wir nichts wissen von einem Menschen, wenn wir nur wissen, daß er Müller heißt, so wissen wir auch nicht viel von Gabriel, wenn wir nur seinen Namen wissen. Aber dann wissen wir etwas von einem Menschen, wenn wir sagen können, er ist ein mitleidsvoller Mensch, er hat das oder das getan. So auch, wenn wir von einer übersinnlichen Wesenheit sagen können, daß sie die Kräfte einfließen läßt in den physischen Menschenleib, Kräfte, die gewisse Strukturen in die menschliche Fortpflanzungskraft ausgießen können, und wir sagen von einer anderen Wesenheit, daß sie einen gewissen Anteil hat an dem Anregen für intuitive Wahrheit. Nicht so sehr für den Geistesforscher, den Initiierten selbst, sondern für diejenigen, die verstehen wollen die Geistesforschung, die zu aktivem Denken übergehen wollen, wirkt Michael, wenn diese Kräfte immer mehr in der Menschheit sich ansammeln in den folgenden Jahrhunderten.

Dieser Übergang ist noch in anderer Beziehung ein wichtiger. Durch

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dasjenige, was da geschehen ist, bildet sich inuner mehr eine Menschheit heran, die durch ihre Organisation in der Lage ist, in zukünftigen Inkarnationen wirklich zurückzuschauen auf frühere Inkarnationen. Aber die Menschheit muß sich in diese Lage versetzen.

Man kann sich nicht an etwas erinnern, an das man niemals gedacht hat. Wenn man abends gedankenlos seine Manschetten ausgezogen hat und gedankenlos die Knöpfe hinlegt, so kann man sie am andern Morgen nicht finden, weil man nicht daran gedacht hat. Wenn man den Gedanken gefaßt hat, sich das Bild der Umgebung von den Knöpfen, die man abgelegt hat, einzuprägen, wird man am nächsten Morgen schnurstracks zu dem Platze hingehen, wo man sie hingelegt hat.

So wie das für das gewöhnliche Leben gilt, für das Erinnerungsleben, so sollte es auch begriffen werden für den großen Horizont der verschiedenen Erdenleben. An das innerste Wesen der Seele müssen wir uns zuerst erinnern, an das, was wirklich hinübergeht in das Wesen der Seele. Aber dazu müssen wir das Seelenleben zuerst erfaßt haben. Das können wir nur durch okkulte Schulung.

Wenn man sich nicht bemüht hat, den Gedanken des Wesens der Seele zu haben in der früheren Inkarnation, so kann man sich auch nicht daran zurückerinnern. Organisiert zur Erinnerung werden die Menschen sein, aber sie werden diese Organisation zunächst als Krankheit empfinden, als Nervosität, als einen furchtbaren Zustand. Denn sie werden organisiert sein, um sich zurückzuerinnern, aber sie haben nichts, woran sie sich erinnern können. Wenn der Mensch Eindrücke hat, die er nicht verwerten, Organe in sich hat, die er nicht gebrauchen kann, dann erkrankt er.

Dem gehen wir entgegen, daß die Menschheit organisiert sein wird zum Erinnern, daß aber nur diejenigen sich erinnern können, die etwas zum Erinnern haben, die also das Menschenseelenwesen in seiner Eigenart als Glied der geistigen Welt durch okkulte Schulung erkannt haben. In jedem Leben, das auf ein solches folgt, in dem man die Seele als Geistwesen erkannt hat, kommt die Rückerinnerung an vorhergehende Erdenleben.

So stehen wir an einem wichtigen Wendepunkt. Geisteswissenschaft

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verstehen, heißt im Grunde nichts anderes, als ein Gefühl haben für diesen Wendepunkt in unserer Zeit.

Nun sind nicht alle Wesenheiten, die der Hierarchie der Archangeloi angehören, gleich geartet, gleich im Rang. Wenn wir von der Hier­archie der Archangeloi sprechen, kann man sagen, die lösen sich so ab, wie ich gesagt habe. Aber der höchste im Range, gleichsam der Oberste ist derjenige, der in unserem Zeitalter die Herrschaft zu führen beginnt, ist Michael. Er ist einer aus der Reihe der Archangeloi, aber er ist gewissermaßen der Fortgeschrittenste.

Nun gibt es eine Entwickelung, und die Entwickelung umfaßt alle Wesen. Die Wesen sind in steigender Entwickelung, und wir leben in dem Zeitalter, wo Michael, der Oberste von der Natur der Archangeloi, übergeht in die Natur der Archai. Er wird allmählich übergehen in ein leitendes Wesen, in eine leitende Wesenheit, wird Zeitgeist, leitende Wesenheit für die ganze Menschheit.

Das ist das Bedeutsame, das ist das ungeheuer Wichtige unseres Zeitalters, daß wir begreifen, daß das, was in allen vorhergehenden Epochen noch nicht da war, für die ganze Menschheit nicht da war, nun sein kann, werden muß ein Gut für die ganze Menschheit. Was bisher bei einzelnen Völkern auftrat - spirituelle Vertiefung -, kann nun etwas sein für die gesamte Menschheit.

Und wenn wir so hinweisen auf dasjenige, was hinter der Sinnenwelt geschieht, so können wir auch hinweisen auf das, was sich in der Sinnenwelt abspielt als Abdruck dessen, was eben geschildert worden ist: daß gleichsam eine Erhöhung dieses Erzengels sich abspielt hinter der sinnlichen Welt.

Bisher hat der Mensch eine Persönlichkeit sein können; in Zukunft wird er auch eine Persönlichkeit sein, aber in einer anderen Weise, als er es bis in unser Zeitalter gewesen ist. Der Mensch hat gewissermaßen immer teilgenommen an den übersinnlichen Welten, hat es wenigstens können mit seinem Seelenleben. Aber die persönliche Note, die persönliche Färbung, die der Mensch dargelebt hat in dieser Sinnenwelt, kam nicht von oben herunter, kam von unten herauf, sie kam von Luzifer. Luzifer hat die Persönlichkeit gemacht. Daher konnte man sagen: Der Mensch kann mit seiner Persönlichkeit nicht

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hinein in die übersinnliche Welt, kann seine Persönlichkeit nicht hineinbringen in die geistige Welt, er muß seine Persönlichkeit auslöschen, sonst verunreinigt er die geistige Welt.

In Zukunft obliegt dem Menschen, daß er die Persönlichkeit inspiriert werden läßt von oben, auf daß sie aufnehmen könne, was da ausfließen soll aus der geistigen Welt. Ihre Note bekommt die Persönlichkeit durch das, was sie an spirituellen Erkenntnissen aufzunehmen vermag, die Persönlichkeit wird etwas ganz anderes werden. Gewissermaßen durch das, wodurch er abgerissen ist vom Geistigen, was ihm von dem Leibe aufgedrückt wird, war der Mensch früher eine Persönlichkeit, in Zukunft wird er eine Persönlichkeit sein müssen durch dasjenige, was er aus der spirituellen Welt in sich zu verarbeiten, in sich aufzunehmen vermag.

Durch ihr Blut, durch ihr Temperament waren in der Vergangenheit Persönlichkeiten bestimmt, und in diese Persönlichkeiten strahlten unpersönliche Elemente aus dem Übersinnlichen hinein. Durch Temperament, durch Blut wird man immer weniger und weniger Per­sönlichkeit sein können. Persönlichkeit wird man in Zukunft sein können durch den Charakter, den man durch seine Teilnahme an der übersinnlichen Welt erhält.

Das wird bewirken der Impuls des Michael, der eben in die menschliche Seele hineinleitet das Verständnis für das spirituelle Leben. Die Menschen mit ausgesprochenem Persönlichkeitscharakter werden diesen Persönlichkeitscharakter davon haben in Zukunft, daß sie dieses oder jenes ausdrücken werden durch Verständnis der übersinnlichen Welten.

Die Alexanders, Cäsars, Napoleons gehören der Vergangenheit an. In sie floß gewiß das übersinnliche Element hinein, doch die hohe persönliche Färbung haben sie durch das, was sie erhalten haben von unten herauf. Die Menschen, die Persönlichkeiten sind durch die Art, wie sie die geistige Welt in die sinnliche hineintragen, die Menschen, die von der Seele aus Persönlichkeit in die Menschheit tragen, das werden die Persönlichkeiten sein, welche die Alexanders, Cäsars, Napoleons ablösen werden. Die Stärke der Menschentaten in der Zukunft wird sich ergeben aus der Stärke des geistigen Einschlags, der in diese Menschentaten hineinfließen wird.

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Dieses alles gehört zu dem, was das Bedeutsame des Übergangs von einer Epoche zur anderen ist. Aber was eben den bedeutungsvollsten Übergang charakterisiert, ist der Übergang von der Epoche des Gabriel zu der Epoche des Michael in unserer Übergangsepoche.

Wir können auch mit dem gesunden Menschenverstand uns dadurch ein Verständnis aneignen dessen, was heute gesagt ist, wenn wir nur vorurteilsfrei genug sind, in unsere Zeit hineinzuschauen und zu sehen, wie aneinanderstoßen die zwei Möglichkeiten noch bis ins letzte Drittel des 19.Jahrhunderts.

Die erste Möglichkeit ist, aus der Naturwissenschaft heraus Weltanschauung zu bauen. Heute ist das veraltet, etwas Antiquiertes, liegt nicht mehr im Charakter des Zeitalters. Die Menschen machen es noch, weil sie eben noch das forttragen, was aus dem Alten kommt. Im Charakter des Zeitalters liegt es, aus den Inspirationen der geistigen Welt und aus deren Verständnis heraus Weltanschauung zu zimmern. Das müssen wir als ein Gefühl, als eine Empfindung in unserer Seele aufnehmen, dann lernen wir wissen, was anthroposophische Weltanschauung für die einzelnen Seelen bedeutet, lernen empfinden, was Entwickelung für die Menschheit ist. Teilnehmer dürfen wir sein an Bedeutungsvollem.

Und nun erinnere ich Sie an etwas, was ich eingeflochten habe in die Vorträge, die ich das letzte Mal hier gehalten habe, in die Vorträge von der Veränderung der Funktion des Buddha. Hier ist auch der Punkt, wo in der nächsten Betrachtung an die heutige angeknüpft werden soll.

Gewissermaßen mit einer Frage können ja die heutigen Betrachtungen abschließen, mit der Frage, die sich in jeder Seele ergeben kann, und die uns von Wichtigem, das heute betrachtet wurde, zu noch Wichtigerem führen wird.

Wenn eine Erhöhung des Michael stattgefunden hat, wenn er zum leitenden Geist der abendländischen Kultur geworden ist, wer tritt an seine Stelle? Der Platz muß ausgefüllt werden. Jede Seele muß sich sagen: also muß auch ein Engel eine Erhöhung, ein Aufrücken er­fahren haben, muß eintreten in die Reihe der Archangeloi. Wer ist das?

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Mit dieser Frage will ich abschließen, um hineinzuleiten in noch wichtigere Betrachtungen, die uns übermorgen beschäftigen sollen.

Heute wollte ich vor Ihre Seele stellen den wichtigen Charakter des Übergangs: die Tatsache, daß die Seelen, die sich aufraffen können, Verständnis finden können für inspirierte Wahrheit. Denn so wollen es die hinter der Menschheit stehenden, die Menschheitsevolutjon leitenden Weltenmächte. Und das Abbild für die Sinnenwelt ist dieses: Während die Persönlichkeit einen anderen Charakter annimmt, während im verflossenen Zeitalter der Persönlichkeit die Färbung gegeben haben Temperament und Blut, wird in Zukunft tonangebend werden für die Persönlichkeit des neuen Zeitalters das Element des spirituellen Verständnisses. Das wird das tonangebende Element sein.

Wichtig ist, dies zu verstehen, noch wichtiger ist, dies zu erfüllen. Von diesem Punkt werden wir übermorgen zu einer bedeutsamen Betrachtung, die in jede einzelne unserer Seelen eindringen kann, übergehen.