Rudolf Steiner (1861-1925):
GA 99 Die Theosophie des Rosenkreuzers
12. Vortrag München, 4. Juni 1907
Die Menschheitsentwicklung auf der Erde II
Äußerlich hat sich der Vorgang, den ich Ihnen als die Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit schilderte, so abgespielt, daß Sie sich in jenem Menschentier des Mondes noch beide Geschlechter vereinigt denken müssen, auch noch bei ihren Nachkommen auf der Mondenwiederholung der Erde. Dann hat wirklich eine Art von Spaltung des Menschenleibes stattgefunden.
Diese Spaltung ist zustande gekommen durch eine Art Verdichtung. Erst durch die Herausgliederung eines Mineralreiches, wie es das heutige ist, konnte der heutige Menschenleib, der ein Geschlecht darstellt, entstehen. Die Erde und der menschliche Leib mußten sich erst bis zu der mineralischen Natur von heute verfestigen. In den weichen Menschenleibern des Mondes und der ersten Erde waren zweigeschlechtliche Menschen männlich-weiblicher Wesenheit.
Nun müssen wir uns an die Tatsache erinnern, daß in gewisser Beziehung der Mensch sich einen Rest der alten Zweigeschlechtlichkeit erhalten hat insofern, als beim heutigen Menschen beim Manne der physische Leib männlich und der Ätherleib weiblich ist und beim Weibe umgekehrt; da hat der physisch weibliche Leib einen männlichen Ätherleib. Diese Tatsachen eröffnen uns interessante Einblicke in das Seelenleben der Geschlechter. Die Aufopferungsfähigkeit des Weibes zum Beispiel im Liebesdienste hängt zusammen mit der Männlichkeit ihres Ätherleibes, während der Ehrgeiz des Mannes erklärt wird, wenn wir die weibliche Natur seines Ätherleibes erkennen.
Ich habe bereits gesagt, daß aus der Vermischung der uns von der Sonne und dem Monde zugesandten Kräfte das entstanden ist, was das Gesonderte im Menschengeschlechte darstellt. Nun müssen Sie sich klar sein, daß beim Manne der stärkere Einfluß auf den Ätherleib ausgeht vom Monde und der stärkere Einfluß auf den physischen Leib von der Sonne. Bei der Frau dagegen ist es umgekehrt: der physische Leib wird beeinflußt von den Kräften des Mondes und der Ätherleib von denen der Sonne.
127Der fortwährende Umtausch von mineralischen Stoffen im heutigen physischen Leibe des Menschen konnte erst stattfinden, als sich das heutige Mineral gebildet hatte. Vorher gab es eine ganz andere Ernährungsform. Während der Sonnenzeit der Erde waren alle Pflanzen durchdrungen von Milchsäften. Da ist die Ernährung tatsächlich so bewirkt worden, daß der Mensch aus den Pflanzen die Milchsäfte sog wie heute das Kind aus der Mutter. Die Pflanzen, die heute noch Milchsäfte enthalten, sind letzte Nachzügler aus jener Zeit, wo alle Pflanzen reichlich diese Säfte lieferten. Erst später kam die Zeit, wo die Ernährung die heutige Form annahm.
Um den Sinn der Geschlechtertrennung zu verstehen, müssen wir uns klar sein, daß sowohl auf dem Monde als auch während der Mondenwiederholungszeit auf der Erde alle Wesen einander sehr ähnlich sahen. So wie eine Kuh dasselbe Aussehen hat wie ihre Nachkommen, wie alle Kühe, weil da die Gruppenseele zugrunde liegt, so sahen auch die Menschen ihren Vorfahren zum Verwechseln ähnlich, und das ging bis lange in die atlantische Zeit hinein.
Woher kommt nun die Tatsache, daß die Menschen sich nicht mehr ähnlich sind? Sie kommt aus der Entstehung der zwei Geschlechter. Aus der früheren Zweigeschlechtlichkeit her hat sich im weiblichen Wesen die Tendenz erhalten, die Nachkommen ähnlich zu gestalten. Im männlichen Wesen wirkt der Einfluß anders; in ihm wirkt die Tendenz, die Verschiedenheit, die Individualisierung hervorzurufen, und dadurch, daß die männliche Kraft in die weibliche einfloß, wurde immer mehr Unähnlichkeit erzeugt. So tritt durch den männlichen Einfluß die Möglichkeit auf, daß die Individualität Platz greift.
Noch eine andere Eigentümlichkeit hatte das alte Zweigeschlechtliche. Wenn Sie einen alten Mondenmenschen nach seinen Erlebnissen gefragt hätten, wären ihm dieselben ganz gleich vorgekommen wie die seiner urältesten Vorfahren; alles lebte durch Generationen hindurch. Die Vorbereitung der Tatsache, daß sich allmählich jenes Bewußtsein entwickelte, das sich nur von der Geburt bis zum Tode erstreckt, liegt in der Individualisierung des Menschengeschlechts, und damit entwickelte sich auch die Möglichkeit einer solchen Geburt und eines solchen Todes wie heute. Denn jene alten Mondenmenschen, die
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so schwebend, schwimmend sich bewegten, hingen herunter aus der Umgebung, in die hinein sie ihre Blutstränge sandten.
Wenn so ein Wesen starb, so war das kein Sterben der Seele, es war nur ein Absterben wie das eines Gliedes; oben blieb das Bewußtsein, wie wenn Ihnen zum Beispiel Ihre Hand an Ihrem Körper verdorren würde und an deren Stelle Ihnen eine neue Hand herauswüchse. So empfanden diese Menschen bei ihrem dämmerhaften Bewußtsein das Sterben nur wie ein allmähliches Vertrocknen ihrer Leiber. Dieselben verdorrten, und immerfort sproßten neue hervor; das Bewußtsein aber blieb durch das Bewußtsein der Gruppenseele erhalten, so daß wirklich eine Art von Unsterblichkeit vorhanden war.
Dann entstand das gegenwärtige Blut, das jetzt im Menschenleibe selbst erzeugt wurde; das ging mit der Entstehung der Zweigeschlechtlichkeit Hand in Hand. Damit trat die Notwendigkeit eines merkwürdigen Prozesses ein. Das Blut erzeugt einen fortwährenden Kampf zwischen Leben und Tod, und ein Wesen, das rotes Blut in sich erzeugt, hat auch in sich selbst den Schauplatz eines beständigen Kampfes zwischen Leben und Tod, denn fortwährend wird rotes Blut verbraucht und verwandelt sich in blaues Blut, in einen Todesstoff.
Mit der eigenen Blutumwandlung im Menschen entstand auch jene Verfinsterung des Bewußtseins über Geburt und Tod hinaus. Erst da verlor der Mensch mit der Aufhellung des Gegenwartsbewußtseins die alte im Dämmerhaften vorhandene Unsterblichkeit, so daß das Nichtherausschauen über Geburt und Tod innig zusammenhängt mit der Geschlechtlichkeit. Und noch ein anderes hängt damit zusammen.
Als der Mensch die Gruppenseele hatte, ging das Dasein von Generation zu Generation weiter; es gab keine Unterbrechung durch Geburt und Tod. Jetzt trat diese Unterbrechung ein und damit die Möglichkeit der Reinkarnation. Früher war der Sohn nur eine unmittelbare Fortsetzung vom Vater, der Vater vom Großvater; das Bewußtsein riß nicht ab. Jetzt kam eine Zeit, wo es sich verdunkelte über Geburt und Tod hinaus, und erst damit war die Möglichkeit eines Aufenthaltes in Kamaloka und Devachan gegeben. Dieser Wechsel, dieser Aufenthalt in höheren Welten ist überhaupt erst möglich geworden nach der Individualisierung, nach der
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das [anfing], was wir heute Inkarnation nennen, und damit zugleich dieser Zwischenzustand, der auch einst wieder aufhören wird.
So sind wir bis zu dem Zeitalter gelangt, wo wir den alten zweigeschlechtlichen Organismus, der eine Art Gruppenseele darstellt, sich trennen sehen in Männliches und Weibliches, so daß das Gleiche, das Ähnliche sich fortsetzt durch das Weibliche, das Verschiedenartige durch das Männliche. Wir erblicken tatsächlich innerhalb unserer Menschheit im Weiblichen dasjenige Prinzip, das noch die alten Stammesrassen und Volkszusammenhänge erhält, und im Männlichen dasjenige, was diese Zusammenhänge fortwährend durchbricht, sie durchklüftet und so die Menschheit individualisiert.
Es wirkt im Menschen tatsächlich ein altes Weibliches als Gruppenseele und ein neues Männliches als individualisierendes Element. Es wird dahin kommen, daß alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame Blut vorhanden sein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet. Das ist der Gang der Menschheitsentwickelung.
In den ersten atlantischen Rassen bestand noch ein starkes Zusammengehörigkeitsband, so daß die ersten Unterrassen sich auch nach der Farbe gliederten, und dieses Gruppenseelenelement haben wir noch in den verschiedenfarbigen Menschen. Diese Unterschiede werden immer mehr verschwinden, je mehr das individuelle Element die Oberhand gewinnt. Es wird eine Zeit kommen, wo es keine verschiedenfarbigen Rassen mehr geben wird. Der Unterschied in bezug auf die Rassen wird aufgehört haben, dagegen werden individuell die größten Unterschiede bestehen.
Je weiter wir zurückgehen in alte Zeiten, desto mehr treffen wir das Übergreifen des Rassenelements an. Das richtig individualisierende Prinzip beginnt überhaupt erst in der späteren atlantischen Zeit. Bei den alten Atlantiern empfanden wirklich noch Angehörige der einen Rasse eine tiefe Antipathie gegen Angehörige einer anderen Rasse. Das gemeinsame Blut bewirkte die Zusammengehörigkeit, die Liebe. Es galt für unsittlich, einen Angehörigen eines anderen Stammes zu heiraten.
Wenn Sie als Seher bei dem alten Atlantier den Zusammenhang zwi-
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sehen dem Ätherleib und dem physischen Leibe prüfen würden, dann würden Sie eine merkwürdige Entdeckung machen. Während bei dem heutigen Menschen der Ätherkopf des Ätherleibes sich ziemlich deckt mit dem physischen Teil des Kopfes und nur ein weniges darüber hinausragt, ragte bei dem alten Atlantier der Ätherkopf weit hinaus über den physischen Kopf. Namentlich am Stirnteil ragte derselbe mächtig hervor.
Nun müssen wir uns an der Stelle zwischen den Augenbrauen, nur etwa einen Zentimeter tiefer, einen Punkt im physischen Gehirn denken und einen zweiten im Ätherkopfe, der diesem Punkt entsprechen würde. Beim Atlantier waren diese beiden Punkte noch weit auseinander, und die Entwickelung bestand eben darin, daß sie sich immer näher rückten.
Im fünften atlantischen Zeitalter rückte nun der Punkt des Ätherkopfes in das physische Gehirn hinein, und dadurch, daß diese beiden Punkte zusammenkamen, entwickelte sich das, was uns heute zu eigen ist: Rechnen, Zählen, das Vermögen zu urteilen, überhaupt das Begriffsvermögen, die Intelligenz. Vorher hatten die Atlantier nur ein groß entwickeltes Gedächtnis, aber noch keinen kombinierenden Verstand.
Hier haben wir den Ausgangspunkt für das Bewußtwerden des Ich. Eine Selbständigkeit des Wesens war bei dem Atlantier nicht vorhanden, ehe diese beiden Punkte zusammenkamen; dagegen konnte er in viel innigerem Kontakt mit der Natur leben. Seine Wohnungen setzten sich zusammen aus dem, was ihm die Natur gab. Er formte die Steine um und verband sie mit den wachsenden Bäumen. Seine Wohnungen waren herausgeformt aus der werdenden Natur, waren eigentlich umgestaltete Naturgegenstände. Er lebte so in den kleinen Zusammenhängen, die noch durch die Blutsverwandtschaft erhalten waren, daß in denselben eine starke Autorität durch den Stärksten, der der Häuptling war, ausgeübt wurde. Alles hing ab von der Autorität, die aber noch in anderer Weise ausgeübt wurde.
Als der Mensch in die atlantische Zeit eintrat, konnte er noch keine artikulierte Sprache reden; diese entwickelte sich erst in der atlantischen Zeit. Ein Häuptling hätte keine Gebote in einer Sprache ausdrücken können. Dagegen hatten diese Menschen die Fähigkeit, die Sprache der Natur zu verstehen. Davon hat der heutige Mensch keinen Begriff; das muß er erst wieder lernen.
Stellen Sie sich zum Beispiel
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eine Quelle vor, die Ihnen Ihr Bild spiegelt. Als Okkultist erhebt sich in Ihrer Seele ein eigentümliches Gefühl. Sie sagen: Mein Bild dringt mir aus dieser Quelle entgegen; das ist mir ein letztes Zeichen, wie sich auf dem alten Saturn alles hinausgespiegelt hat in den Raum. - Die Erinnerung an den alten Saturn taucht in dem Okkultisten auf, wenn er sein Spiegelbild in der Quelle erblickt. Und im Echo, das den gesprochenen Laut zurückgibt, taucht die Erinnerung auf, wie auf dem Saturn alles, was in den Weltenraum hineintönte, als Echo zurückkam.
Oder Sie sehen eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung, in der gleichsam die Luft das aufgenommen hat, was ihr an Bildern überliefert wird und Ihnen dann wiedergibt. Als Okkultist sehen Sie darin eine Erinnerung an die Sonnenzeit, wo die gasförmige Sonne alles, was ihr aus dem Weltenraum entgegenkam, aufnahm, in sich verarbeitete, es dann zurückstrahlte und ihre eigene Natur darin mitgab. Auf dem Sonnenplaneten hätten Sie gesehen, wie die Dinge drinnen als Fata Morgana, als eine Art Lichtbild vorbereitet waren innerhalb der Gase des Sonnenzustandes. So lernt man ohne Phantastik die Welt vielartig auffassen, und das ist ein wichtiges Mittel zur Hinaufentwickelung in die höheren Welten.
In den alten Zeiten verstand der Mensch in hohem Grade die Natur. Es ist ein großer Unterschied, ob man in einer Luft lebt wie der heutigen oder in einer solchen wie zur atlantischen Zeit. Die Luft war damals durchzogen von mächtigen Nebelmassen; Sonne und Mond waren umgeben von einem riesigen Regenbogenhof. Es gab eine Zeit, wo die Nebelmassen so dicht waren, daß kein Auge hätte die Sterne sehen können, wo Sonne und Mond noch verfinstert waren; sie wurden erst nach und nach sichtbar für den Menschen. Dieses Sichtbarwerden von Sonne, Mond und Sternen wird großartig geschildert in der Schöpfungsurkunde. Was da geschildert wird, hat sich wirklich zugetragen, und mehr noch hat sich zugetragen.
Das Verständnis für die umgebende Natur war also beim Atlantier noch sehr stark vorhanden. Was im Rauschen der Quelle, im Windessturm tönt und Ihnen heute unartikulierter Laut ist, das hörte der Atlantier als verständliche Sprache. Gebote gab es damals noch nicht, aber der Geist drang heraus aus der wassergeschwängerten Luft und sprach
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zum Menschen. Die Bibel drückt das aus mit den Worten: «Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.» Der Mensch hörte den Geist heraus aus den Dingen; aus Sonne, Mond und Sternen heraus sprach der Geist zu ihm, und Sie finden in jenem Wort der Bibel einen deutlichen Ausdruck für das, was sich zutrug in der menschlichen Umgebung.
Dann kam die Zeit, in welcher ein besonders fortentwickelter Teil des Menschengeschlechts, der in einer Gegend lebte, die ebenfalls heute Meeresboden ist, in der Nähe des heutigen Irlands, zuerst jene starke Eingliederung des Ätherleibes erlebte und dadurch eine Erweiterung der Intelligenz erfuhr. Dieser Teil begann, unter Führung des Vorgeschrittensten nach Osten zu ziehen, während nach und nach mächtige Wassermassen den atlantischen Kontinent überschwemmten. Der am weitesten vorgeschrittene Teil dieser Völkerschaften zog bis nach Asien hinein und gründete dort das Zentrum der Kulturen, die wir als die nachatlantischen Kulturen bezeichnen.
Von dort strahlte dann die Kultur aus. Sie ging aus von jenem Menschenstrom, der später weiter nach Osten vorrückte und von Zentralasien aus in Indien die erste Kultur gründete. Diese wies noch starke Nachklänge der atlantischen Kultur auf. Der alte Inder hatte noch nicht ein solches Bewußtsein, wie wir es heute haben, aber die Möglichkeit dazu war gegeben, als jene beiden Punkte des Gehirns, von denen ich gesprochen habe, zusammenfielen.
Im Atlantier lebte vor dieser Eingliederung noch ein Bilderbewußtsein; er sah noch geistige Wesenheiten durch dasselbe. Er hörte nicht nur eine deutliche Sprache im Murmeln der Quelle, sondern für ihn stieg aus der Quelle die Undine herauf, die ihre Verkörperung im Wasser hat. In den Strömungen der Luft sah er Sylphen, im brodelnden Feuer die Salamander. Er sah das alles, und daraus entstanden die Mythen und Sagen, die sich am reinsten da in Europa erhalten haben, wo Reste der Atlantier geblieben sind, die nicht bis nach Indien kamen.
Die germanischen Sagen und Mythen sind Überreste von dem, was die alten Atlantier noch gesehen haben innerhalb der Nebelmasse. Die Flüsse, wie der Rhein, lebten im Bewußtsein dieser alten Atlantier, als ob in ihnen niedergeschlagen wäre die Weisheit, die in den Nebeln des alten Niflheim war. Jene Weisheit schien ihnen in den Flüssen drinnen zu sein; sie lebte darin als die Rhein-Nixen oder ähnliche Wesenheiten.
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So lebten hier in diesen Gegenden Europas Nachklänge der atlantischen Kultur; drüben in Indien aber entstand eine andere, die noch Nachklänge jener Bilderwelt zeigte. Diese selbst war versunken, aber die Sehnsucht nach dem, was sich darin ausdrückt, war dem Inder geblieben. Hatte der Atlantier die Weisheit der Natur sprechen hören, dem Inder blieb die Sehnsucht nach dieser Einheit mit der Natur, und so zeigt sich der Charakter dieser altindischen Kultur darin, daß sie zurückgehen will in die Zeit, die früher dem Menschen natürlich war.
Ein Träumer war der alte Inder. Zwar lag vor ihm ausgebreitet, was wir Wirklichkeit nennen, aber die Welt der Sinne war Maja vor seinen Augen. Was der alte Atlantier noch sah als schwebende Geister, das suchte der alte Inder in seiner Sehnsucht nach dem geistigen Inhalt der Welt, nach dem Brahman. Und diese Art des Zurückgehens nach dem alten traumhaften Bewußtsein des Atlantiers hat sich erhalten in der morgenländischen Schulung in einem Zurückholen dieses alten Bewußtseins.
Weiter nach Norden haben wir die Meder und Perser, die urpersische Kultur. Während die indische Kultur stark absieht von der Wirklichkeit, wird sich der Perser bewußt, daß er mit derselben zu rechnen hat. Der Mensch tritt da zuerst als Arbeiter auf, der sich bewußt ist, daß er mit seinen geistigen Kräften nicht bloß Erkenntnis anstreben soll, sondern daß er die Erde damit umgestalten soll. Als eine Art feindlichen Elements trat sie ihm zuerst entgegen. Er hatte die Erde zu überwinden, und dieser Gegensatz drückt sich aus in Ormuzd und Ahriman, in der guten und in der bösen Gottheit, und in dem Kampfe zwischen beiden. Der Mensch wollte immer mehr und mehr die geistige Welt einfließen lassen in die irdische Welt, aber noch konnte er nicht innerhalb der äußeren Welt eine Gesetzmäßigkeit, eine Naturgesetzmäßigkeit anerkennen. Die alte indische Kultur hatte in Wahrheit eine Erkenntnis von höheren Welten, aber nicht auf Grund von einer Naturwissenschaft, weil alles Irdische sich auf Maja bezog; der Perser lernte die Natur nur kennen als eine Arbeitsstätte.
Wir kommen dann zu den Chaldäern, Babyloniern und zu den ägyptischen Völkerschaften. Da lernte der Mensch in der Natur selbst die Gesetzmäßigkeit erkennen. Wenn er hinaufblickte zu den Sternen,
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suchte er hinter ihnen nicht bloß Götter, sondern er prüfte die Gesetze der Sterne, und so entstand jene wunderbare Wissenschaft, die wir bei den Chaldäern finden. Der ägyptische Priester sah das Physische nicht als ein Widerstrebendes an, sondern er gliederte die Geistigkeit, die er in der Geometrie fand, seinem Boden, seinem Lande ein. Die äußere Natur wurde erkannt in ihrer Gesetzmäßigkeit. Innig verknüpft war in der chaldäisch-babylonisch-ägyptischen Weisheit die äußere Sternenkunde mit der Erkenntnis der Götter, die die Sterne beseelen. Das ist die dritte Stufe der Kulturentwickelung.
Erst auf der vierten Stufe der nachatlantischen Entwickelung kommt der Mensch so weit, daß er das, was er in sich selbst als Geistigkeit erlebt, eingliedert in die Kultur. Das ist in der griechisch-lateinischen Zeit der Fall. Da prägt der Mensch im Kunstwerk, in der geformten Materie seine eigene Geistigkeit dem Stoff auf, in der Plastik sowohl wie auch im Drama. Auch die ersten Anfänge der menschlichen Städtebildung finden sich hier. Diese war anderer Natur als in der vorgriechischen Zeit in Ägypten und Babylon. Da schauten die Priester zu den Sternen hinauf und suchten ihre Gesetze, und ein Abbild dessen, was am Himmel vorging, schufen sie in dem, was sie bauten. So zeigen ihre Türme die siebenstufige Entwickelung, die der Mensch zuerst an den Himmelskörpern erforschte, und so zeigen die Pyramiden lauter kosmische Verhältnisse.
Den Übergang von der Priesterweisheit zur eigentlichen menschlichen Weisheit finden wir wunderbar ausgedrückt in der ersten römischen Geschichte in den sieben Königen Roms. Was sind diese sieben Könige? Wir erinnern uns, daß die Urgeschichte Roms auf das alte Troja zurückführt. Troja stellt sich dar als ein letztes Resultat alter Priestergesellschaften, die nach den Gesetzen der Sterne die Staaten eingerichtet haben.
Nun kommt der Übergang zur vierten Kulturstufe. Die alte Priesterweisheit wird überwunden durch die Menschenklugheit, deren Bild der listige Odysseus darstellt. Noch anschaulicher haben wir das in einem Bild, das nur so richtig verstanden werden kann und das die Überwindung der Priesterweisheit durch die menschliche Urteilskraft darstellt. Als Symbolum der Menschenweisheit gilt immer die Schlange. Die Laokoongruppe stellt dar, wie die Priesterweisheit
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des alten Troja durch die menschliche Klugheit und Menschenweisheit, die in den Schlangen ausgedrückt ist, überwunden wird.
Dann wurden durch die maßgebenden Autoritäten, die durch die Jahrtausende wirken, die Vorgänge skizziert, die zu geschehen hatten, und danach mußte die Geschichte verlaufen. Diejenigen, die an der Ursprungsstätte Roms gestanden haben, die haben schon vorherbestimmt die siebengliedrige Kultur Roms, wie sie aufgeschrieben steht in den sibyllinischen Büchern. Denken Sie dieselbe durch: Sie finden in den Namen der sieben Könige Nachklänge an die sieben Prinzipien des Menschen. Das geht sogar soweit, daß der fünfte römische König, der Etrusker, von außen kommt. Er stellt den Teil des Manas, des Geistselbstes dar, der die drei niederen mit den drei höheren Gliedern verbindet.
Die sieben römischen Könige stellen dar die sieben Prinzipien der Menschennatur; es sind die geistigen Zusammenhänge darin eingezeichnet. Das republikanische Rom ist nichts anderes als die menschliche Weisheit, die die alte Priesterweisheit ablöst. So wuchs die vierte Zeit aus der dritten heraus. Der Mensch ließ aus sich hervorgehen, was er selbst in der Seele hatte, in den großen Kunstwerken, im Drama und im Recht. Vorher war alles Recht aus den Sternen geholt. Die Römer sind ein Rechtsvolk geworden, weil hier der Mensch nach seinen eigenen Bedürfnissen das Recht, das er brauchte, das Jus, geschaffen hat.
Wir selber leben im fünften Zeitalter. Wie drückt sich in ihm der Sinn der ganzen Entwickelung aus? Verschwunden ist die alte Autorität; der Mensch wird immer innerlicher, sein äußeres Schaffen wird immer mehr ein Abdruck seines Innern. Die Stammeszusammengehörigkeiten zerfallen, der Mensch wird immer mehr individualisiert. Daher der Keim zu der Religion, die da sagt: Wer nicht verläßt Vater und Mutter, Bruder und Schwester, der kann nicht mein Jünger sein -, das heißt: Alle Liebe, die auf Naturzusammengehörigkeit begründet ist, muß aufhören; der Mensch soll dem Menschen gegenüberstehen und Seele sich zu Seele finden.
Wir haben die Aufgabe, das, was in der griechisch-lateinischen Zeit herausgeflossen ist aus der Seele, noch mehr herunterzuholen auf den physischen Plan. Damit wird der Mensch ein immer mehr in die Materialität versenktes Wesen. Hat der Grieche in seinen Kunstwerken ein
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idealisiertes Abbild seines Seelenlebens geschaffen und in die menschliche Form gegossen, hat der Römer in seinen Rechtssatzungen etwas geschaffen, was schon mehr persönliche Bedürfnisse darstellt, so gipfelt unser Zeitalter in Maschinen, die nur ein materialistischer Ausdruck der ganz persönlichen Bedürfnisse der Menschen sind.
Mehr und mehr stieg die Menschheit herunter vom Himmel, und dieses fünfte Zeitalter ist am tiefsten heruntergestiegen, ist am stärksten verstrickt in die Materie. Hat der Grieche in seinen Schöpfungen noch den Menschen über den Menschen erhoben in seinen Abbildern - denn Zeus stellt den über sich selbst erhobenen Menschen dar -, finden Sie in den römischen Rechtssatzungen noch etwas vom Menschen, der über sich selbst hinausgeht, denn der Römer legte noch mehr Wert darauf, römischer Bürger zu sein als persönlicher Mensch, so finden Sie in unserem Zeitalter den Menschen, der den Geist verwertet, um seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Denn alle Maschinen, Dampfschiffe, Eisenbahnen, alle komplizierten Erfindungen, welchem Zwecke dienen sie? Der alte Chaldäer früher hat in der einfachsten Weise seine Nahrungsbedürfnisse befriedigt; heute wird eine Unsumme von Weisheit darauf verwendet. Kristallisierte Menschenweisheit wird darauf verwendet, um Hunger und Durst zu stillen. Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen: Die Weisheit, so angewendet, ist unter sich selbst herabgestiegen bis in die Materie hinein.
Alles was der Mensch früher heruntergeholt hatte aus dem Geistigen, mußte unter sich selbst heruntersteigen, um wiederum hinaufsteigen zu können. Damit hat aber auch unser Zeitalter seine Aufgabe bekommen. Floß im alten Menschen das Blut, das ihn zusammenband mit seinem Stamme, so ist heute die Liebe immer mehr zerklüftet, die noch im alten Blut geflossen ist. Eine Liebe, die geistiger Art ist, muß an ihre Stelle treten; dann können wir wiederum zum Geistigen hinauf.
Daß wir vom Geistigen herabgestiegen sind, hat seine gute Berechtigung, denn die Menschen müssen diesen Abstieg durchmachen, um aus eigener Kraft wieder den Weg zur Geistigkeit hinauf zu finden, und die Mission der geisteswissenschaftlichen Strömung ist es, der Menschheit diesen Weg hinauf zu zeigen.
Wir haben den Gang der Menschheit verfolgt bis zu der Zeit, in der
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wir selber stehen. Wir müssen nun zeigen, wie sie sich weiter entwickeln wird und wie der Mensch, der eine Einweihung durchmacht, heute schon eine gewisse Stufe der Menschheit vorausnehmen kann auf seinem Erkenntnis- und Weisheitspfade.