Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 93 Die Tempellegende und die Goldene Legende

Vortrag Stuttgart 23. Oktober 1905 (halb zwölf Uhr)

Freimaurerei und Menschheitsentwicklung II (nur vor Frauen)

Die Dinge, die wir heute besprechen wollen, sind bisher nicht vor Frauen besprochen worden. Daher ist es eigentlich eine Kühnheit, wenn ich heute darüber zu Ihnen spreche. Aber gewisse okkulte Strömungen machen es nötig. Innerhalb dieser Strömungen gibt es manche Dinge intimer Art, die bis vor kurzem nicht vor Frauen besprochen werden durften, weil die okkulten Bruderschaften - die den Zweck hatten, diese intimen Dinge zu pflegen - das strenge Gebot hatten, keine weiblichen Mit­glieder aufzunehmen. Das, was sie in der Welt zu tun hatten, sollten sie nicht unter Mitarbeit des weiblichen Elementes machen. Bis vor kurzem ist dieses Gebot pünktlich eingehalten worden. Heutzutage nun ist die einzige Möglichkeit, einen Ausgleich zwischen den zwei Geschlechtern zu schaffen, nur in der Theosophischen Gesellschaft gegeben. Hier ist auch allein die Stätte, wo über diese Dinge vor Frauen gesprochen wird.

Wir fragen nun: Warum hat diese Trennung der Geschlechter stattgefunden, die in den Freimaurerlogen zu einem so grotesken Ausdruck gekommen ist? - Wenn man verstehen will, warum eigentlich diese Spaltung gepflogen worden ist, so muß man das mit einem etwas grotesken Vergleich ausdrücken: Wenn sich zwei Mächte bekriegen, so würde es sehr töricht sein, wenn der eine Feldherr dem anderen, feindlichen, seinen Feldzugsplan verraten wollte, bevor der Krieg beginnt. Genauso würde es bedeuten, dem Feinde die Waffen auszuliefern, wenn man in der Freimaurerei die Frauen herangezogen hätte. Denn um einen Krieg handelt es sich bei den Freimaurern, und zwar um den Krieg gegen den weiblichen Geist, um eine scharfe Opposition gegen den weiblichen Geist als solchen. Dieser Kampf war notwendig, ja, die okkulte Freimaurerei ist geradezu zu diesem Zweck gegründet worden. Daher war es Usus, über die okkulten Dinge vor den Geschlechtern getrennt zu reden. Es muß erst eine Form gefunden

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werden, in der von diesen Dingen zu Frauen gesprochen werden kann.

Die Gründung der Freimaurerei geht in ferne Vergangenheit zurück. Sie entstand beim Beginn der vierten Unterrasse unserer jetzigen fünften Wurzelrasse. Zu derselben Zeit wurde auch erst das Alte Testament niedergeschrieben, welches uns Aufschluß über diese Dinge gibt. Es wird gesagt, daß höhere Geister dem Moses die Offenbarungen gemacht haben,die er dann niedergeschrieben habe. Die Kenntnis der höheren Tatsachen war aber schon viel früher vorhanden und wurde von Geschlecht zu Geschlecht mündlich, von Priestermund zu Priestermund, weitergegeben, bis sie von Esra - dem die Niederschrift dieser Dinge zugeschrieben wird - schriftlich dokumentiert worden ist.

Als das Alte Testament nun anfing, durch die Priesterschaft eine Macht zu werden, da entstand in der Bruderschaft der Freimaurer aus einer bestimmten Ursache heraus eine gewaltige Opposition gegen dieses Priesterbuch, die Bibel. Sie ist sicher immer dagewesen, und sie war notwendig. Wir müssen uns klarmachen, warum?

Seien wir uns einig darüber, daß alles, was auf dem physischen Plan vor sich geht, zuerst in einer gewissen Weise frühere Tatsachen wiederholen muß. Es findet auf der Erde stets eine Wiederholung der Ereignisse früherer Zeiten statt. Der Mensch muß vor der Geburt die Stadien durchmachen, die er in seinem dumpfen Tierbewußtsein früher durchgemacht hat. So war zum Beispiel auch die Renaissancezeit des Mittelalters eine Wiederholung der alten griechischen Zeit. Auch bei den planetarischen Vorgängen finden wir solche Wiederholungen. Bevor die Erde das wurde, was sie heute ist, mußte sie erst die Wiederholung früherer Zustände durchmachen, ehe sie in der vierten Runde ein selbständiger Planet, eben unsere Erde wurde. So wiederholen sich, wenn neue Tatsachen in der Welt auftreten sollen, immer die früheren Stufen in einer neuen Form.

So hat der Geist der Menschen in der fünften Wurzeirasse eine Wiederholung der lemurischen Rasse durchgemacht, wo der Mensch noch eingeschlechtlich war und dann zweigeschlechtlich wurde, was einen großen Einfluß auf seine geistige Entwickelung hatte. In der dritten Unterrasse der fünften

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Wurzelrasse, der babylonisch-ägyptischen Zeit, hat sich nun nach und nach wiederholt auf dem Gebiete des geistigen Lebens, was in der lemurischen Zeit mit dem physischen Menschen vorgegangen ist.

Bevor es Männliches und Weibliches gab, war beides vereinigt, dann traten die zwei Geschlechter auseinander. Dieselbe Sache haben wir in der fünften Wurzelrasse in bezug auf die geistige Entwickelung.

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In der ersten Unterrasse, in der indischen Kultur ist noch alles erhaben über den physischen Plan. Die uralte indische Weisheit, die aus der ersten Unterrasse der fünften Wurzelrasse stammt, hängt geistig vor allem zusammen nicht mit dem heutigen physischen Plan, son­dern mit den Zuständen früherer Zeit, wo der Mensch noch männlich-weiblich war. Daher wird dort auch noch gar nicht Bezug genommen auf die Tatsache der Geschlechter. Von einem dualistischen Prinzip ist in ihr nicht die Rede; dieses trat erst in der folgenden Unterrasse auf. Die Veden sind aus viel späterer Zeit.

Bei der zweiten Unterrasse tritt schon eine gewaltige Spaltung auf. Das, worin sich diese Spaltung äußert, das stellt uns das Alte Testament in einem wunderbaren Bilde dar. Sehr schön und deutlich steht es in der Genesis: Bevor Jahve den Menschen geschaffen hat, schuf er auf der Erde Früchte, Tiere und so weiter und zuletzt schuf er den Menschen, Adam, und diesen teilte er dann in zwei Geschlechter.

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Diese Darstellung beruht auf okkulter Erkenntnis der physischen Tatsachen. Nun stellt selbstverständlich alle okkulte Weisheit einen Zusammenhang dar zwischen physischen Tatsachen und der späteren geistigen Weisheit. Denn die physischen Tatsachen sind aus der göttlichen Weisheit hervorgegangen, und die Weisheit geht später wieder aus dem physischen Leben, aus dem Menschen hervor. Es ist ein Zusammenhang da zwischen Weisheit, Erkenntnis und dem physischen Leben.

Die ganze brütende und fruchtbringende Kraft, die einen neuen Menschen hervorbringt, war früher in einem Geschlecht vereinigt. Dann wird der Mensch geteilt in männlich und weiblich. Welchem Geschlecht kommt der eigentliche Anspruch auf die Zeugungskraft zu? Es ist das Weibliche. Daher wird in der ältesten griechischen Mythologie Zeus, der als Vater der Menschheit verehrt wurde, mit einer Frauenbüste, mit einer weiblichen Büste dargestellt. Zeus als übermenschliches Wesen war dem weiblichen Geschlecht näher.

Das weibliche Geschlecht war also das erste, das frühere, und hatte damals in sich die Kraft, das ganze menschliche Individuum hervorzubringen. Diese hervorbringende Kraft war vorhanden in dem eingeschlechtlichen Menschen, der in seiner physischen äußeren Form sich eben mehr der Form des Weibes näherte. In diesem eingeschlechtlichen Menschen war das Befruchtende die Weisheit, das Geistige selbst, und eine spätere Wiederholung davon ist die Befruchtung des weiblichen Geistes mit inspirierter Weisheit. Dieser Mensch der eingeschlechtlichen Zeit war das Ergebnis des im Weibe gegebenen Stoffes und der Befruchtung mit dem göttlichen Geiste.

Nun müssen Sie sich klarmachen, was das war, wodurch das Weib den Menschen hervorbringen konnte. Physisch haben wir zunächst das Weib, das befruchtet wird von oben. Was das Befruchtende war, war der göttliche Geist im Weibe.

Als die Spaltung der Geschlechter stattfand, trat die Differenzierung so ein, daß sich zunächst für das weibliche Geschlecht die geistigen Befruchtungsorgane in Weisheitsorgane verwandelten. Die männliche Kraft, die das Weib in sich hatte, die verwandelte die schöpferische Kraft in die Organe der Weisheit.

So blieb dem Weibe die Hälfte der hervorbringenden Kraft; dem

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Manne blieb die schöpferische physische Kraft. Durch diese Trennung entstanden physisch das Rückenmark und das Gehirn mit den Nervensträngen, dargestellt in dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis. Das Organ der Weisheit ist ausgebildet in den Rückgratringen mit dem Rückenmark und dessen Ausdehnung im Gehirn. Von da an ist eine Zweiheit im Menschen: Das sind die zwei Bäume in der biblischen Urkunde, der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens.

Nun passen sich die neuen Wesen dieser Umwandiung an. Nicht alle früheren weiblichen Individuen haben nachher die weibliche Form angenommen. In dem einen Teil trat die weibliche Seite, die Möglichkeit, Menschen hervorzubringen, zurück, und es bleibt ihm als Ersatz die Kraft der Befruchtung in einer ganz anderen Weise zurück. Die physische Natur hatte sich gespalten in ein Befruchtendes und ein zu Befruchtendes. Ebenso hat sich auch die geistige Natur gespalten. Bei den weiblichen Individuen hat der Geist männlichen Charakter und Färbung; beim Manne hat das Geistige einen weiblichen Charakter. Das ist noch das Weib im Manne.

Die biblische Legende stellt das sehr genau dar. Es wird bekanntlich dem zweigeschlechtlichen Menschen verboten, vom Baume der Erkenntnis zu essen. Die Kraft, die Jehova in den Menschen gelegt hatte, war, seine Weisheit im Weibe wirken zu lassen. «Du sollst nicht essen vom Baume der Erkenntnis», heißt soviel wie: Du sollst nicht die befruchtende Kraft abtrennen und selbständig machen. Denn dadurch geht dem Weibe die Jahvekraft, die befruchtende Kraft, verloren.

Als das Weib vom Baume der Erkenntnis aß, legte es den Grund dazu, selbständig in der Weisheit zu werden und somit aufzuhören, ein unselbständiges Werkzeug Jehovas zu bleiben, wie dieser es geplant hatte. So aber verlor es mit der Jehovakraft die Kraft, sich selbst mit Weisheit zu befruchten. Es setzte diese Kraft aus sich heraus, indem es [von dem Baume der Erkenntnis] aß und dem Manne von dem Apfel gab. So wurde das Weib vom Manne abhängig. Es war Luzifer, der den Menschen auf diesen Weg brachte, um ihn selbständig zu machen. Dem widersetzte sich Jehova und erließ deshalb das Verbot, vom Baume der Erkenntnis zu essen.

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Das Weib aber ißt und gibt dem Manne. Der ißt auch, und dann folgt die Strafe, von Jehova verhängt. Neue Leiber müssen entstehen, die das Karma des vorigen Lebens austragen, der Tod und das Geborenwerden kommen in die Welt. Das Weib ist nun nicht mehr durch sich selbst fruchtbar, sondern ist unfruchtbar geworden. Und damit, daß die Befruchtung von außen kommt, ist auch die Möglichkeit eines solchen Todes in die Welt gekommen.

Im Bilde der biblischen Paradieses-Erzählung wird uns dieser tiefe Zusammenhang dargestellt. Alte Priestertraditionen waren Inhalt die­ser Bilder geworden, alte Priesterweisheit war in diesen Bildern anschaulich verkörpert. Das Weib ist dann unfruchtbar geworden in bezug auf geistige Weisheit, indem es nach physischer Erkenntnis verlangte. Es gab dem Manne, er aß auch, sie wurden schuldig und aus dem Paradiese, zu dessen Entstehung sie nichts getan hatten, vertrieben. Das ist die alte Priestertradition über die Entstehung der Geschlechter. Es liegt eine tiefe Kenntnis vom Zusammenhange der tatsächlichen Vorgänge darinnen.

Was war nun geschehen dadurch, daß das Weibliche sich vom Männlichen abspaltete? In welchem Geschlechte hat sich der Schatten der produktiven geistigen Weisheitskraft mehr erhalten, im männlichen oder im weiblichen? Wir haben gesehen, daß die weibliche Weisheit eigentlich einen männlichen Charakter hat: das ist das Schaffende, das Produktive, die Intuition, das was originell ist, was her­vorbringt. Dieselbe göttliche Kraft, die früher befruchtend im Weibe gewirkt hat, um den physischen Menschen hervorzubringen, wirkt nun befruchtend auf die Erkenntnis des göttlichen Wesenskernes im Menschen. Um diesen Vorgang zu fördern, wirken die Religionen durch Wort und Bild.

Das weibliche Wesen wird physisch unfruchtbar, das heißt, es kann keine Nachkommen aus sich heraus setzen wie ehedem. Der männliche, passive Geist ist derjenige, der geistig unfruchtbar ist, aber der Mann ist der, der physisch befruchten kann. Geistig läßt er sich nun befruchten durch alles das, was in der Welt ist. Er wird nun geistig befruchtet, um selbst physisch befruchten zu können. Die ganze Welt dringt zunächst auf ihn ein. Er wird befruchtet geistig, das Weib

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physisch. Das Weib dagegen ist geistig selbst befruchtend; der Mann wird geistig befruchtet.

Dadurch, daß man draußen alles sammelte und kombinierte, wurde die männliche Weisheit befruchtet. So entstand die Männerweisheit, die darauf bedacht war, die weltliche Weisheit zu sammeln. Die war wirklich zunächst nicht vorhanden, wie die früher von oben einströmende. Sie mußte erst gesammelt werden aus der Erkenntnis der physischen Welt. Die weibliche Weisheit dagegen ging faktisch auf die Priesterschaft über. Die Priesterweisheit wurde das Gut, welches ursprünglich von der alten weiblichen Weisheit herstammte. Jehova konnte das menschliche Geschlecht ja nur dadurch erhalten, daß er es in die zwei Geschlechter spaltete. Es entstanden zwei Oppositionen: Freimaurerei und Priesterherrschaft, die symbolisiert sind durch Kain und Abel.

Nun ist ein Unterschied zwischen der weiblichen Priesterweisheit und dem männlichen Streben. Das wird uns dargestellt in der Legende von Kain und Abel.

Kain erschlug den Abel; das heißt: die männliche Weisheit wehrt sich gegen die weibliche Weisheit, denn sie fühlt, daß sie die physische Weisheit erobern und umformen muß.

Diese Opposition nun aufzunehmen, das setzten sich die alten Freimaurer als Ideal vor. Sie wollten der weiblichen Weisheit, die auf die Priesterschaft übergegangen war, entgegenarbeiten durch die männliche Weisheit. Die Bibel in ihren großen Bildern war anzusehen als die auf die Priesterschaft übertragene intuitive weibliche Weisheit; der wollten sie entgegensetzen die vom Manne selbst erworbene Weisheit. Dieser Kampf gegen die Priesterweisheit war der Ausdruck der Opposition der Freimaurer. Man mußte dabei diejenigen, die mitwirkten, freihalten von einem jeglichen Einflusse weiblicher Weisheit. Es hatte dieser Kampf zu tun mit der physischen Entwickelung, und

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es war deshalb notwendig für die Freimaurer, sich von jedem Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte fernzuhalten in bezug auf ihre Arbeit. Sie wußten, daß ihre Opposition gegen den weiblichen Geist nur durchgeführt werden könnte, wenn sie nicht gestört würden durch weibliche Gedanken. Man mußte das Positive hinstellen und überhaupt vermeiden, daß ein störendes Element dazwischen kam.

Das Freimaurertum schuf nun als Gegensatz zur Bibellegende die Tempellegende. Diese sollte das Kampfesschwert gegen die Priesterschaft darstellen. Diese Tempellegende wollen wir uns nun vor die Seele stellen. Sie hat folgenden Inhalt:

Ursprünglich schuf einer der Elohim den Kain, indem er sich selbst mit Eva verband. Dem stellte entgegen der Elohim Jahve den Adam. Dieser verband sich mit Eva, und daraus ging Abel hervor. Kain erschlug den Abel, Jehova machte darauf das Geschlecht des Kain untertan dem Geschlecht des Abel.

Das heißt: ursprünglich wandte sich die weltliche Weisheit gegen die Priesterweisheit und unterlag, denn in Seth wurde das Abelprinzip fortgesetzt, und alle weltliche Weisheit wurde der Priesterweisheit unterworfen.

Nun wird erzählt, wie die Nachkommen des Kain die Erde eroberten, wie sie die Künste ausbildeten. Musik, Künste und Wissenschaf­ten wurden von ihnen gepflegt. Tubal-Kain (1. Moses 4,21-22), der Meister von Erz und Eisenwerk, Jubal, von dem die Pfeifer und Geiger hergekommen sind, Hiram, der Erbauer des Salomonischen Tempels (1. König, 7,13), zählten zu Kains Nachkommen.

Da - mit Hiram - wären wir an der Grenze zwischen der dritten und vierten Unterrasse [d.h. zwischen der ägyptischen und der griechisch-römischen Kulturepoche] angelangt, wo die Priesterherrschaft überging in die Königsherrschaft. Es entstand das Königtum von Gottes Gnaden, dessen Repräsentant der König Salomo war.

Salomo hatte seine Macht nicht erhalten durch Arbeit auf dem physischen Plan, sondern durch das, was von Gottes Gnaden gekommen ist. Die Priesterweisheit ging über auf die Königsherrschaft. So wird diese als die Nachfolgerin der Priesterherrschaft angesehen, die unfähig war, aus sich selbst heraus für die Menschheit das für den Erdenfortschritt Notwendige zu tun. Aus den Abkömmlingen Kains mußte derjenige, der

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den Tempel bauen sollte, geholt werden, weil er selbsterarbeitete Gedanken besaß.

Die Legende erzählt nun weiter, daß die Königin von Saba, Balkis, verlobt war mit König Salomo. Sie kam zu ihm und staunte den Tempelbau an, er ihre Weisheit. Sie verlangte den Baumeister selbst zu sehen, denn sie konnte nicht begreifen, daß durch Menschenweisheit dieser wunderbare Bau entstanden sei. Hiram kam und machte schon allein durch seinen Blick einen mächtigen Eindruck auf sie. Nun verlangte sie auch die Arbeiter am Tempel zu sehen. Als Salomo sagt, daß das nicht gehe, da macht Hiram das mystische Tau-Zeichen in die Luft, und alsbald strömen die Arbeiter herbei. In dem mystischen Tau-Zeichen liegen die Kräfte, durch welche die Kainssöhne arbeiten auf dem physischen Plan.

Drei Gesellen des Hiram sind unzufrieden, weil er sie nicht zum Meistergrad befördert hat. Sie beschließen, dem Hiram zu schaden. Sie wollen sein Hauptwerk zerstören. Er will nämlich das Eherne Meer ausführen: das ist ein großes Kunstwerk, das aus einem flüssigen Elemente, aus geschmolzenem Erz, gegossen werden soll. Das ist ein Symbol des großen Kunstwerkes, zu dem das ganze Mineralreich umgearbeitet werden soll: die Aufgabe unseres Manvantaras.

Die drei Gesellen tun folgendes: sie bringen den Guß des Ehernen Meeres in Unordnung. Hiram versucht durch Zugießen von Wasser den Guß wieder in Ordnung zu bringen: da zerstiebt alles in einem feurigen Sprühregen. Als Hiram verzweifelt sich verloren glaubt, wird er durch eine Gestalt, in der er Tubal-Kain erkennt, in den Mittelpunkt der Erde geführt. Dort wird ihm gesagt: Jehova oder Adonai ist nichts anderes als ein Feind der Feuergeister. Er will die Feuergeister vernichten. Dir aber wird ein Sohn geboren werden, den du zwar selbst nicht sehen wirst, der aber ein neues Geschlecht auf die Erde bringen wird.

Nun gibt ihm Tubal-Kain einen Hammer, womit er den Guß des Ehernen Meeres zu Ende führen kann. Die drei Gesellen aber ermorden ihn. Vor seinem Tod haucht er noch ein Wort aus, das er auf ein goldenes Dreieck schreibt, und versenkt es. Man versteht das Wort nicht. Dies Wort ist das verlorene Wort der Freimaurer. Hiram wird beerdigt, ein Akazienzweig wird auf sein Grab gepflanzt. Das Dreieck

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wird noch einmal ausgegraben, aber niemand weiß es zu würdigen. Es wird wieder versenkt und ein Würfel darauf gesetzt, auf wel­chem die Zehn Gebote geschrieben stehen.

Was heißt nun: Jehova haßt die Feuersöhne? - Es sind diejenigen Menschen, die auf dem Wege der Eingeschlechtlichkeit hervorge­bracht sind (Kain). Die Weisheit ist in ihnen mit Kama, dem irdischen kamischen Feuer vermischt. Diejenigen, die sich dem weiblichen Priestertum zugewendet haben, sind die Abelsöhne.

Hiram wird verheißen: Du wirst einen Sohn haben, der ein neues Geschlecht begründen wird. Du wirst ihn zwar nicht kennen. - Dieses neue Geschlecht soll herbeigeführt werden, wenn das verlorene Wort wieder seine Kraft erhält, wenn es in neuer Weise entsteht. Dieses Wort wieder entstehen zu lassen, daran arbeitet die okkulte Tradition, die im Freimaurertum verkörpert ist. Sie arbeitet daran, daß im männlichen Elemente zu dem Passiven das Aktive hinzutreten kann, daß sie selbst das Befruchtende wieder erlange im Geiste, um aus dem Passiven ein Aktives zu machen, damit die Kainssöhne aus sich selbst etwas hervorbringen können.

Die folgende Tradition bildete sich aus: Die weibliche war die ursprüngliche Kraft. Sie hat der Welt alles gegeben, was an Weisheit in der Welt war. Sie hat aber einen Teil der physischen Produktionskraft verloren und auf das Männliche übertragen.

Nun vergeistigt sich wieder alles und bei der Vergeistigung sucht die männliche Kraft die Herrschaft an sich zu reißen. Das männliche Element des Den­kens sucht das Weibliche zu überdauern. Es wird aber eine Zeit kommen, wo wieder Geschlechtslosigkeit eintreten wird, und es handelt sich hei dem Kampfe darum, welches von den beiden Geschlechtern diese Geschlechtslosigkeit zuerst erobert. Das Freimaurertum strebt danach, daß das männliche Geschlecht, besser gesagt der männliche Geist, das Weibliche überdauern möge, die Geschlechtslosigkeit erobern möge.

Es gibt nun einen okkulten Zusammenhang zwischen der Kraft der Sprache und der geschlechtlichen Produktionskraft. Das «Wort» hat alles hervorgebracht. Es lebte ursprünglich im Menschen. Dann hat der Mensch es verloren. Er kann nicht mehr selbständig schaffen, weil

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ihm das Wort fehlt. Nur der kann es wissen, der bei der Schöpfung zugegen war. Tubal-Kain wußte es und gab es dem Hiram. Dies Wort muß derjenige an sich reißen, der wieder Hervorbringungskraft haben will. Die wirkliche produktive Kraft muß sich mit dem Wort vereinigen. Das Wort wird den Menschen der Zukunft hervorbringen. Dann wird der Sohn des Hiram wirklich zu sehen sein. Das Feuer, die göttliche Kraft, wird dann in neuer Weise erstehen. Ein neues Geschlecht wird das alte ablösen.

In der alten hebräischen Sprache gibt es ein Wort, ein Mantram, von dem gesagt wird, daß es, genügend stark ausgesprochen, die Welt hervorbringt. So wird der Mensch, wenn das Wort genügend gesteigert ist, durch die Sprache selbst den geistigen Menschen hervorbringen.

Jetzt begreifen wir, was im Baume der Erkenntnis dargestellt ist: Die Schlange ist das, was sich im Rückgrat als Rückenmark hinaufwindet. Die Erkenntnis im Physischen ist die, die aus dem Nervensystem entspringt. «Es wird Feindschaft sein zwischen dir und dem Weibe, zwischen ihrem Samen und deinem Samen»: damit ist die Feindschaft zwischen dem Samen des Physischen, der physischen Erkenntnis, und dem Samen des Geistigen, der geistigen Erkenntnis gemeint. Das Geistige, das Weib, zermalmt zwar der Schlange den Kopf, aber erst, nachdem diese es in die Ferse gestochen hat. Es ist das, was aus dem Mittelpunkt der Erde zu den Füßen dringt.

Bei der Mannesreife wird die Sprachkraft eine andere. Das wurde als Vorbote angesehen für den neuen Sohn des Hiram (2. Chronik 2,13). Darauf hinzuwirken, diesen Sohn aus dem männlichen Geschlechte zu erzeugen, der durch die Kraft des Kehlkopfes entstehen soll, das war das Ideal, das sich die Freimaurer gestellt hatten. Alles was auf Erden später im Physischen entstanden ist, hat seinen Ur­sprung im Geistigen. Im Urbeginne wirkte nur das, was vom göttlichen Geiste auf der Erde entstand.

Dann entstand auf der einen Seite die weibliche Bilder- und Priesterweisheit, auf der anderen Seite die bildlose Kainsweisheit. Und es ist interessant, daß, als gesucht wurde ein bildlicher Inhalt für die Kainsweisheit, daß da die männliche Weisheit eine Anleihe macht bei der weiblichen Weisheit: die Tempellegende und der ganze Inhalt der Freimaurerei stammt aus der

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alten Priesterweisheit, der Offenbarung von Oben. Das wurde in Symbole gehüllt. Aber die Symbole wurden nach und nach nicht mehr verstanden. Alles Okkulte verschwand nach und nach aus der Freimaurerei. Die drei Johannesgrade sind ganz auf den physischen Plan berechnet.

Da wir gesehen haben, warum diese geistigen Strömungen nebeneinander hergingen, so werden wir auch die Bedeutung der theoso­phischen Bewegung verstehen. Sie bereitet auf geistigem Gebiet vor, was später auf dem physischen Plan geschehen wird: die Wiedervereinigung der Geschlechter. Auch die geteilte Weisheit muß wieder in die eine göttliche Weisheit zusammenfließen. Im Menschen muß durch die theosophische Wiesheit ein Ausgleich gefunden werden zwischen der religiösen Priesterweisheit und der freimaurerischen Weisheit. Die Weisheit der Zukunft muß geholt werden aus dem höheren Menschen heraus, der in beiden Menschen gleich lebt, dem weiblichen und dem männlichen. Das zu entwickeln, worauf es ankommt, worauf der physische Plan gar keinen Einfluß mehr hat, das ist der Zweck der theosophischen Bewegung.

Die Theosophie ist tatsächlich die männlich-weibliche Weisheit, die für beide Geschlechter gleich gültige Weisheit. Durch die Lehre von der Reinkarnation erkennt man, daß dasjenige, was bei jeder neuen Wiederverkörperung zum Ausdruck kommt, nicht die Persönlichkeit des jeweiligen Erdenlebens ist, sondern daß der Kausalkörper, die Entelechie, sich geschlechtslos aufbaut.

Wenn wir uns dieser bewußt werden, so lebt in uns geistig auf, was über dem Geschlechtlichen steht, was unabhängig ist von dem, worauf sich die Gegnerschaft der beiden Strömungen gegründet hat. So ist die Theosophie die ausgleichende Bewegung, und sie allein kann den Ausgleich herbeiführen. Erst in der Theosophie kann man von einem Okkultismus sprechen, der beide Geschlechter gleichmäßig angeht. Nur von da aus kann man sich einen wirklichen Ausgleich zwischen beiden Geschlechtern denken. Nur die theosophische Bewegung kann das vollziehen. Alles andere ist eine Nachwirkung der früheren Zweigeschlechtlichkeit.

Das Freimaurertum stellt sich die Aufgabe, das Zukünftige vorzubereiten. Deshalb wurde schon im 18. Jahrhundert abgesehen von dem

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früheren vollständig ausschließenden Prinzip. Und 1775 wurde eine erste sogenannte «Adoptionsloge» gegründet: eine Frauenloge, weil man das Gesetz des Ausgleichs der Geschlechter erkannte. Und so wurde ein Zusammenhang hergestellt zwischen Männern und Frauen, indem eine Frauenloge gegründet wurde. Aber jedes Mitglied einer Frauenloge mußte von einem Manne in einer Männerloge adoptiert sein.

Einer solchen Adoptionsloge gehörte auch H. P. Blavatsky an. Aus der Freimaurerei selbst heraus wurde also jener theosophische Versuch gemacht. Dies zeigt Ihnen, daß dem, was richtig ist, stets ein Versuch vorangeht; nur der Grund, warum ein solcher Versuch gemacht wird, kann nicht gleich verstanden werden. Aber man kann auch nicht verlangen, daß das, was in der Welt als Grundkraft ist, gleich immer wirklich verstanden wird: es kann sein, daß man die eine oder die andere Strömung bevorzugt. Deshalb werden die beiden Strömungen wohl noch lange nebeneinander herfließen. Es könnte, um ein ruhiges Ausgleichen zu bewirken, nötig sein, in die Freimaurerei hineinzugießen, was sie hinüberführt zur theosophlschen Bewegung.

Nun werden Sie auch begreifen, warum die Kirche im Mittelalter ein ganz bestimmtes Ideal entwickeln mußte. Die Freimaurerei schuf ihr Ideal der Zukunft, die Kirche schuf ihr Ideal der Zukunft. Mit der Freimaurerei hatte sie nichts zu tun. Als Ideal lebte in der Kirche der Christus, also ein männliches Ideal. Dieses männliche Ideal konnte der okkulten Strömung innerhalb der Kirche nicht genügen. Der Mann brauchte zu dem Passiven auch das Aktive, er mußte das, was ihm selbst fehlte, sich hinzudenken. Er brauchte als Konzentra­tionsmittel etwas, was ihn ergänzte. Mann war er schon, das Weib mußte er hinzudenken. Der Okkultist, der etwas von den Dingen ver­stand, der nicht Freimaurer war, mußte das Weib denken. So entstand aus dem Mönchstum bewußt der Marienkultus. Dieser kam als dritte Strömung zu der Kirche, das heißt zu dem Priestertum und dem Freimaurertum hinzu.

Alle drei Strömungen hatten im Grunde genommen dasselbe Ziel: das Unabhängigwerden der Menschen von den Geschlechtern. Aber die Art der Arbeit, um das Ziel zu erreichen, war eine verschiedene.

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Der christliche Okkultist suchte in dem Weibe das männliche Prinzip, um es sich einzuverleiben.

Man muß sich klar sein darüber, daß der wahre innere Mensch unabhängig ist vom Geschlechte, welches trennt; daß er daher durch beide Geschlechter hindurchgeht in den verschiedenen Verkörperungen. Und nun müssen Sie bedenken, daß bei der Freimaurerei der Kampf auf dem äußeren physischen Plan geführt wurde, damit alle Individualitäten, die sich in weiblichen Körpern inkarnieren, allmäh­lich zum Männlichen hinübergeführt werden sollen, so daß das Männliche länger dauert als das Weibliche. Es soll das Weibliche überdauern, weil dieses das Frühere war. Das schwebte der Maurerei als Ideal vor; aber das war eine Einseitigkeit.

Was schwebt nun der Theosophie als Ideal vor? Das Ideal der Theosophie ist: durch die Weisheit, die von den höheren Planen kommt, auch auf dem physischen Plan ein menschliches Geschlecht herbeizuführen, welches über der Geschlechtlichkeit steht. Daher ist die Theosophie auch eine Weisheit, die nicht in Religionen differenziert ist, sich nicht auf eine besondere Religion stützt, sondern zu­rückgreift auf die uralte Weisheit, die die Welt geschaffen hat und die an die Stelle derjenigen Weisheit tritt, welche als Priesterweisheit in den verschiedenen Religionen differenziert ist. Sie mußte das tun, weil die Priesterweisheit eine im Laufe der Zeit vollendete Aufgabe erfüllt hat. Theosophie aber will die Zukunft erobern, das was noch entstehen soll gegenüber dem, was früher war. Sie ist in gewisser Weise eine Fortsetzung der alten Priesterweisheit, der Mysterien, und steht dabei doch in einem gewissen Gegensatz zu ihr.

Gegner der theosophischen Bewegung würden diejenigen sein, welche starr an der alten Priesterweisheit hängen wollten, welche ver­suchen würden, sie zu konservieren, sie sozusagen einzubalsamieren in ihrer alten Gestalt. Der höhere Plan für die Weltengestaltung ist: sie hinüberzuführen in den neuzeitlichen Geist, der die Zukunft zu schaffen hat. Die allererste Morgenröte zur Bildung einer neuen Weis­heit, die da kommen soll, ging auf in einer Zeit, die das neuzeitliche Geistesleben hereinbrachte in die Menschheitsentwickelung im 15. Jahrhundert durch die Rosenkreuzer. Es handelte sich darum, daß

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ein neuer Einschlag in die Welt kam. Ihr Thema lautete: die alte Priesterweisheit muß in ein Neues übergehen.

Es gab auch Mächte, welche die Welt für die alte Priesterweisheit zurückerobern wollten. Deshalb wurde ein Orden gegründet zu dem Zwecke, die Erde für die alte Priesterweisheit wieder zu gewinnen. Dieser Orden [der Jesuitenorden] wählte im Gegensatz zu dem Ma­rienkultus das Männerideal. Er benutzte die okkulten Kräfte, um etwas wie einen Wall aufzurichten, um alles selbständig ausströmende Leben niederzuhalten, um das festzuhalten, was sich heraufranken will an dem Kreuz. Er vertritt das männliche Prinzip: er vertritt das Kreuz allein ohne die Rosen. Ein anderer Orden aber fügte dem Kreuze die Rosen hinzu, aus denen neues Leben sprießt.

Da haben wir zwei neuzeitliche Strömungen.

Diese beiden Strömungen gingen nebeneinander: der eine Orden mit dem Kreuz ohne die Rosen; der andere, welcher die Rosen am Kreuz verehrt - ein Neues, das kommen soll. Das sind die Rosenkreuzer. Auf dieser Strömung baut sich die theosophische Bewegung auf; sie entstammt dem neuen, grünenden Reis der Rose, das in die Zukunft hinein wachsen soll.

So haben wir gesehen, wie dieser Kampf entstand, zu dem die Frauen nicht zugelassen wurden. Unsere Aufgabe ist es, die Kluft zwischen den Freimaurern und den Rosenkreuzern zu überbrücken. Die Arbeit ist schwer, aber sie muß getan werden. Sie besteht darin: zur Erkenntnis des höheren übergeschlechtlichen Menschen zu gelangen. Es ist schwer, sich dazu durchzuringen, aber es ist möglich, und es wird gelingen, es wird zur Wirklichkeit werden.