Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 140 Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt

20. Vortrag Bergen, 11. Oktober 1913

Umwandlung verbliebener Kräfte der kindlichen Entwicklung (Gehen, Sprechen, Denken) zu höheren Erkenntniskräften

Es kann mancherlei gefragt werden über das eine und das andere, wenn man allmählich herandringt an die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse; es kann in berechtigter Weise mancherlei gefragt werden. Wollen wir einmal heute einen Teil unserer Betrachtung damit ausfüllen, daß wir uns selbst solche Fragen vorlegen. Die Beantwortung solcher Fragen ist oftmals geeignet, uns tiefer hinein-zuführen in den ganzen Zusammenhang der Welttatsachen, insofern die geistige Welt in diese Tatsachen hineinwirkt, und namentlich in den Zusammenhang der Tatsachen der menschlichen Natur selber. Eine Frage kann so aufgeworfen werden: Wenn man allmählich dazu kommt, die Wichtigkeit und die große Bedeutung der sogenannten Reinkarnation einzusehen, so kann man fragen: Ja, wie kommt es denn, daß der Mensch im gewöhnlichen Leben in unserer Gegenwart kein Bewußtsein erlangen kann von den vorhergehenden Erdenleben? Das hellsichtige Bewußtsein kann ja in der Tat dazu dringen, gleichsam das Gedächtnis so weit auszudehnen, daß wirklich frühere Erdenleben wie eine Erinnerung im Gedächtnis auftauchen. Aber im gewöhnlichen Leben der heutigen Menschheit ist es ja so, daß ein Bewußtsein der früheren Erden-leben nicht vorhanden ist. Wenn man nun die Frage gleichsam vom Gesichtspunkt der hellsichtigen Forschung stellt, so bekommt sie die folgende Gestalt. Man ist sich ja klar, daß die Kraft, die man zur hellsichtigen Forschung braucht, eigentlich aus dem menschlichen Jnnern und seiner Seele selber hervorkommt. Man entwickelt sich von dem gewöhnlichen Standpunkt des Menschen zu dem hellsichtigen Standpunkt: daher müssen ja die Kräfte, mit denen man später zurückblicken kann auf vorhergehende Erdenleben, in jedem Menschen selbstverständlich vorhanden sein.

Die Frage ist nun diese: Was geschieht denn mit diesen Kräften, was macht die menschliche

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Natur mit diesen Kräften, die da sind, die mit dem Menschen geboren werden und die er doch nicht dahin bringt, daß er zu einer Rückerinnerung an frühere Erdenleben kommt?

Wenn man hellsichtig die Frage untersucht, den Blick hinwendet auf diejenigen Kräfte, die da in Betracht kommen, so muß man die Betrachtung schon in ein sehr frühes Kindheitsalter lenken. Denn dann erst sieht man diese Kräfte, die beim Hellsehen verwendet werden können für den Rückblick in frühere Erdenleben, an der Arbeit. Nämlich: Diese Kräfte werden für die heutige Menschheit verwendet zum Aufbau des menschlichen Kehlkopfes und alles dessen, was damit zusammenhängt. Sie werden namentlich verwendet zu all dem, was den menschlichen Kehlkopf später befähigt, die Sprache zu lernen. Die Kräfte sind also da in jedem Menschen, die ihn befähigen würden, zurückzublicken in frühere Erdenleben.

Aber sie werden in einem solchen Maße heute dazu verwendet, die Sprachorgane beim Menschen auszubilden, daß unter normalen Verhältnissen der Mensch diese Rückerinnerung nicht haben kann. Allerdings gab es früher Erdenzeiten, in denen die Menschen diese Rückerinnerung wohl hatten. Fast über die ganze Erde hin hatten die Menschen diese Rückerinnerung in frühere Erdenleben. Aber das beruht darauf, daß nicht alle Kräfte, die zum Aufbau der Sprachorgane verwendet werden, für den Rückblick in frühere Erdenleben verlorengehen, weil beim Aufbau der Sprachorgane noch gewisse Kräfte zurückgehalten werden. Die Entwickelung der Menschheit ist ja so, daß die Sprache allmählich eine Gestaltung angenommen hat, die heute im gegenwärtigen Menschheitszyklus viel mehr Kräfte namentlich des Ätherleibes aufruft, als das in früheren Zeitaltern der Fall war. So kommt der Mensch der heutigen Zeit gar nicht dazu, dasjenige, was zurückbleibt als Kräfte, von denen der größte Teil zum Aufbau der Sprachorgane verwendet wird, zu berücksichtigen. Würde er das tun, wie es der Hellseher ja tun muß, so würde er in frühere Erdenleben zurückblicken. Daher kommt das, was ich auch im öffentlichen Vortrage über « Die Rätsel des Lebens» angedeutet habe: Wenn man es dazu bringt, diejenige Tätigkeit des Ätherleibes zu entfalten, die sonst nur entfaltet

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wird in der Anstrengung der Sprachorgane, wenn man frei bekommt die Sprachkräfte von den Sprachorganen, wenn man dazu kommt, sich innerlich gewissermaßen zuhören zu können, ohne daß man äußerlich spricht, und dieses immer mehr und mehr fühlt, dann ist die Übung dieser Kräfte dazu geeignet, wirklich das Gedächtnis an frühere Erdenleben herzustellen.
In der heutigen Menschheit ist es so, daß der Mensch gar keine Aufmerksamkeit verwendet auf die Kräfte seiner Sprachbildung, die zurückbleiben und die verwendet werden können zum Rückblick in frühere Erdenleben. Dies ist ein solcher Fall, wo man nachweisen kann durch die hellseherische Forschung, wohin die Kräfte kommen im normalen Leben, die sonst die Menschen zu Einblicken des geistigen Lebens befähigen würden.

So ist es auch mit den Kräften, die beim Menschen in unserer heutigen Zeit verwendet werden, um die sogenannte graue Gehirnsubstanz zustande zu bringen, welche hauptsächlich das Organ des Denkens ist. Dieses Denken ist natürlich nicht etwas, was das Gehirn verrichtet, aber man braucht das Gehirn als ein Werkzeug, um zu denken.

Und jene Denkkräfte, die den Menschen befähigen würden, wenn er sie ganz zur Verfügung hätte, um zum Beispiel mit Leichtigkeit auf dasjenige zu kommen, was in meiner «Geheimwissenschaft» steht, diese Kräfte, die in leichter Art befähigen, zu dieser ganzen Auseinandersetzung der «Geheimwissenschaft» zu kommen, werden beim normalen Menschen heute verwendet, um die graue Gehirnsubstanz in entsprechender Weise zu gliedern. Diese Gliederung der grauen Gehirnsubstanz war noch gar nicht in diesem ausgiebigen Maße, wie es heute beim Durchschnittsmenschen der Fall ist, beim Menschen des alten Griechenlandes im sechsten oder fünften Jahrhundert vorhanden. In dieser Beziehung ändert sich die Menschennatur rascher, als man denkt. Daher war für die Griechen der vorhistorischen Zeit, des zehnten, elften, zwölften Jahrhunderts, in einem bestimmten Lebensalter ganz selbstverständlich, daß ihnen das Hellsehen aufging, das man heute wiederum als Geheimwissenschaft darstellen kann. Und man muß die Kräfte, die einem doch noch erspart bleiben bei der Bearbeitung der grauen Gehirnsubstanz, zur Übung verwenden in der Weise, wie es geschildert

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worden ist, um in reiner, klarer Weise zu überschauen, was zum Beispiel in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben ist.

Worauf beruht das, wenn man so beschreibt, wie es in diesem Buche geschehen ist? Die Bedingungen zu Schilderungen aus der geistigen Welt sind eigentlich auch von dem heutigen Menschen gar nicht so schwer zu erlangen. Man möchte fast sagen, man könne sich wundern, daß heute nicht viel mehr Menschen ganz von selbst zur Anschauung dieser Verhältnisse kommen - und man könnte sich wundern, daß diese Schilderungen eine so starke Gegnerschaft finden. Denn es ist verhältnismäßig nicht schwierig, zu jenem Grad des Hellseherischen zu kommen, der notwendig ist, um diese Dinge zu überschauen. Man braucht nur das Folgende zu machen, obwohl man diesen Dingen gegenüber das Faustwort anwenden kann: «Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.»

Die Entwickelung des Gehirns ist zwar am lebhaftesten in den ersten Jahren des menschlichen Lebens; da sieht man hellsichtig den Ätherleib und auch den Astralleib am meisten tätig an der Furchung, an der Gliederung des Gehirns. Aber es dauert diese Arbeit an unserem Gehirn verhältnismäßig sehr lange. Und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß der Mensch wirklich - wenn es auch in späteren Jahren langsamer geht - durch die Lebenserfahrung schon immer gescheiter und gescheiter wird. Immer findet eine Arbeit an der Gehirnsubstanz statt. Aber man beobachtet das Folgende nicht und kann es ja auch nicht beobachten:

Wenn man sich in einem bestimmten Jahre vornimmt, eine geistige Lieblingsbeschäftigung, die man getrieben hat, einmal nicht zu treiben - doch müsste sich diese nur auf äußere Verhältnisse beziehen, weil durch diese die graue Substanz sich gliedert - Geisteswissenschaft kann es natürlich nicht sein, wenn man sie nicht wie irgendeine andere Wissenschaft studiert -, doch wenn man irgend etwas sonst, was man als Lieblingsbeschäftigung betrieben hat, sieben Jahre lang nicht zu treiben sich vornimmt und wirklich das durchführt, streng durchführt, und man versucht, in stiller Meditation die Kräfte wachzurufen, die man auf diese Weise erspart hat, die, hätte man die Tätigkeit fortgesetzt, anders verwendet worden

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wären, nun aber erspart, herausgesondert sind: so kann man verhältnismäßig leicht, wenigstens in hohem Grade selbst zur Erkenntnis derjenigen Dinge kommen, die in meiner «Geheimwissenschaft» geschildert sind. Daß so wenige Menschen dazu kommen, bezeugt nur, daß so wenig nach dieser Richtung ausgeführt wird. Es wird in der Tat nicht ausgeführt, denn derjenige, der wirklich eine Lieblingsbeschäftigung hat, wird selten die Entsagung haben, sieben Jahre lang sich gar nicht mit ihr zu befassen.

So sehen Sie, daß ein Teil dessen, was heute verkündet werden kann, verhältnismäßig leicht zu erringen wäre. Wenn Sie unsere heutige Kultur betrachten mit allem, was sie an Ungeheuerem äußerlich geleistet hat, so werden Sie sich gar nicht wundern, daß viele Kräfte des Ätherleibes verwendet werden auf die Bearbeitung des Gehirns, denn diese äußere Kultur ist ja fast ganz nur ein Ergebnis eben der Gehirnarbeit, da gehen die Kräfte ganz und gar in der Bearbeitung des Gehirnes auf.

Nun könnte mancher sagen: Ja, ich habe mich aber gar nicht beteiligt an dieser Kulturarbeit, ich habe ja gar nichts dabei getan! - Das kann sich jemand in Wirklichkeit vortäuschen, aber es ist doch nicht der Fall. Man kann heute kaum einen noch so einsam gelegenen Ort auf der Erde finden, wohin nicht die äußere Kultur doch so weit dringt, daß man beteiligt ist mit seinem Denken an dieser äußeren Kultur. Und das genügt schon, um die Kräfte abzulenken von dem, was man nennen könnte: Erlangen des hellsichtigen Bewußtseins.

Freilich könnte jemand sagen: Nun, die Wilden beschäftigen sich ja nicht mit dem, was das Gehirn so bearbeitet, aber man kann auch von den Wilden heute nicht sagen, daß sie besondere hellsichtige Kräfte nach dieser Richtung entwickeln. - Das ist der Fall, weil ein ganz bestimmtes geistiges Gesetz besteht. Dasjenige nämlich, was man auf diese Weise hellsichtig erlangen soll, das muß eine bestimmte Vorbereitung haben. Der Wilde könnte vielleicht ganz andere hellsichtige Kräfte entwickeln. Die hellsichtigen Kräfte aber, die notwendig sind für das Sehen dessen, was in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben ist, könnte der Wilde nicht entwickeln, weil er dazu keine Vorbereitung hat. Denn diese Kräfte müssen wiederum die

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Umkehrung von anderen Kräften sein.

Sie könnten zum Beispiel sagen: Aber viele Menschen haben sich doch das, was ich als Lieb­lingsbeschäftigung gehabt habe, überhaupt erspart! Warum sind diese nicht hellsichtig geworden?

Das beruht darauf, daß die Entwickelung der hellsichtigen Kräfte nicht kommt aus dem Nichts heraus, sondern kommt durch die Umkehrung dessen, was vorhanden ist. Man muß Kräfte in einer gewissen Richtung schon entwickelt haben, man muß den Anlauf schon genommen haben zu derjenigen Intelligenz, die heute unsere Kulturintelligenz ist; man muß eine Zeitlang auf diese Kräfte verzichten, dann werden sie gleichsam umgekehrt. Und dadurch entsteht dasjenige, was einen befähigt, die Tatsachen in der «Geheimwissenschaft» hellseherisch zu verfolgen. Es sind namentlich diejenigen Kräfte bei solchen Schilderungen verwendet, die in der normalen menschlichen Entwickelung vorzugsweise das Gehirn zu den höheren, intelligenteren Kräften befähigen.

Dagegen wird man dasjenige, was nicht diese allgemeinen, großen Gesichtspunkte, wie sie in der «Geheimwissenschaft» geschildert sind, erreicht, sondern was mehr einzelne Verhältnisse erreicht, durch Umkehrung von anderen menschlichen Kräften und Fähigkeiten erlangen. Die Fähigkeit zum Beispiel, in frühere Erdenleben zurückzublicken, erreicht man dadurch, daß man gewisse Kräfte, die sonst ganz für die Sprachorganbildung verwendet werden, zurückbehält in der Art, wie ich es geschildert habe.

Am hinderlichsten sind den Menschen, um in die geistigen Welten zu dringen, gewisse Kräfte, welche gewöhnlich überhaupt gar nicht beachtet werden. Ich habe jetzt zweierlei von den Kräften angeführt, welche den Menschen befähigen, hellsehend hineinzublicken in die geistigen Welten. Auf die Kräfte, die heute verwendet werden zur Ausbildung der grauen Gehirnsubstanz, habe ich hingewiesen; jene Kräfte aber, die den Menschen befähigen, rückzublicken auf frühere Erdenleben, sind die Kräfte, die mit der Ausbildung der Sprache zu tun haben.

Es gibt aber noch Kräfte, die den Menschen befähigen, mehr im einzelnen zu sehen, was zwischen Tod und neuer Geburt liegt, in Einzelheiten zu sehen, was der einzelne Mensch da tut. In der «Geheimwissenschaft» findet

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man mehr das Allgemeine. Das ist aber wieder etwas anderes: wirklich hineinzusehen in die geistige Welt; dazu sind wieder andere Kräfte notwendig, die man kaum beachtet im Leben. Es gibt etwas, zu dem der Mensch sehr viel Kräfte verwenden muß: das ist, daß er sein Leben lang nicht auf allen vieren kriecht, sondern im jugendlichen Lebensalter dazu kommt, sich aufzurichten. Die Kräfte, die den Menschen zum vertikalen Wesen machen, sind Kräfte, die denjenigen, der eingedrungen ist in die geistige Welt, mit ganz besonderer Ehrfurcht erfüllen. Zuzuschauen, wie ein Kind gehen lernt, das schließt für den, der hellsichtige Forschung anstellt, ein wunderbares Mysterium ein. Die Kräfte, die man verwendet, um sich aufzurichten als Kind, die lassen übrig - aber man berücksichtigt dieses Überbleibsel zu wenig -, die lassen übrig diejenigen Kräfte, die einen befähigen, hineinzuschauen in die Welt zwischen Tod und neuer Geburt. Wenn man es nämlich dahin bringt - es gibt dazu noch andere Wege, aber dieses ist ein Weg -, sich zu erinnern, wie man gehen gelernt hat, was man da für Anstrengungen gemacht hat: dann entdeckt man in sich die Kräfte, die man erspart hat in seinem Ätherleib. Denn dieser muß sich namentlich dabei anstrengen. Wenn man diese Kräfte in sich sucht, die man dazumal erspart hat - sie sind noch in allen Menschen vorhanden -, dann kann auf diesem Wege vieles herausgeholt werden aus dem Menschen, was ihn befähigt, in das Leben, das verflossen ist zwischen seinem letzten Tod und seiner Geburt, zurückzusehen.

Sie können fragen: Wie macht man denn das? Wir haben, wenn uns das Glück wird, unsere anthroposophische Bewegung fortzusetzen, schon einen Anfang damit gemacht, daß diese Kräfte hervorgesucht werden. Und wenn es gut geht, werden diese Kräfte gewöhnlich erst nach sieben Jahren rege; aber ein Anfang ist da, und dieser Anfang wird sich fortsetzen in der Menschennatur. Gewöhnlich bleiben die Kräfte unberücksichtigt, die man da erspart hat.

Nun kann der Mensch das Gewahrwerden dieser Kräfte in sich dadurch fördern, daß er eine gewisse naturgemäße Art des Tanzes übt. Es kann gewiß auch durch Meditation hervorgerufen werden, aber seit noch nicht ganz einem Jahre wird aus den Grundsätzen

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der Bewegungen des Ätherleibes in gewissen Kreisen bei uns die sogenannte Eurythmie getrieben.
Das ist nicht etwas wie die gewöhnliche Art des Turnens und Tanzens - was eigentlich zu nichts Besonderem führt -, sondern das sind Bewegungen, die ganz im Sinne der Bewegungen des Ätherleibes gegeben sind. Durch diese Bewegungen wird der Mensch allmählich die Kräfte gewahr werden, die noch in ihm sind, diese Kräfte werden durch diese freie Tanzbewegung entdeckt werden. Und so werden Anlagen allmählich geschaffen werden, die dasjenige erwecken, was im Menschen an Kräften ist, um wirklich hineinzuschauen in jene geistigen Welten, die zwischen dem letzten Tode und seiner Geburt liegen.

So kann Geisteswissenschaft ganz praktisch an der Menschenkultur arbeiten. Und überzeugt kann man sein, daß nach und nach Geisteswissenschaft nicht bloß dabei stehenbleiben wird, einzelne Wahrheiten abstrakt zu lehren, sondern auch den ganzen Menschen so behandeln wird, daß Kräfte, die heute schlummern, geweckt werden, daß der Mensch sich wirklich zu einer geistigen Lebensempfindung aufschwingen lernt. Das sind sonderbare Sachen, die man da sagen muß, aber sie sind nun einmal so: Wenn man entdeckt die Kräfte, die einem beim Gehenlernen zurückgeblieben sind, dann wird man dadurch befähigt, hellsichtig hinzuschauen auf die Welten, in denen man lebt zwischen Tod und einer neuen Geburt. Durch Meditation ist das ja auch zu erreichen, aber sie muß dann so getrieben werden, daß sie auch Gefühl werde. Gefühle sind aber durch Meditation eigentlich am schwierigsten zu bilden. Es sollen die Kräfte also gefunden werden, die den Menschen befähigen, hineinzuschauen in die Welt zwischen Tod und einer neuen Geburt. Namentlich diejenigen Kräfte werden dabei gefunden, durch die man auf das schaut, was längere Zeit der Geburt vorangegangen ist. Auf diesem Gebiete liegt vieles, was das Leben uns erst verständlich macht. Irgendein Unglück trifft uns zum Beispiel. Zunächst haben wir nur die Empfindung: das ist ein Unglück. Wir ertragen es schwer. Wüßten wir aber, warum wir vor der Geburt jahrzehnte-, ja jahrhundertelang alles so eingerichtet haben, daß dieses Unglück uns trifft, dann würde uns vieles erträglicher sein!

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Denn wir wüßten, daß dieses Unglück eine Prüfung ist, damit wir vollkommener werden. Aber auch sonst erlebt man gar mancherlei, wenn man gerade in denjenigen Teil der geistigen Welt hineinsieht, in dem man gewissermaßen die Vorbereitung für das gegenwärtige Leben durchmacht.

Die allgemeinen Verhältnisse will ich hier nicht schildern, die finden Sie ja dargestellt in meinen Schriften. Aber ich möchte gleichsam an einigen Beispielen zeigen, wie das Leben vor der Geburt beeinflußt das Leben nach der Geburt.

Sehen Sie, so sonderbar das klingt, wenn wir die Mitte unseres Lebens zwischen Tod und einer neuen Geburt durchschritten haben - nicht wahr, zwischen Tod und einer neuen Geburt verfließt ja gewöhnlich eine Anzahl von Jahrhunderten, da gibt es natürlich eine Mitte -, dann richtet sich das innere Erleben der Seele in der geistigen Welt vor allen Dingen hinunter auf die Erde. Und man bekommt, wenn man nach dieser Mitte lebt, von der Erde herauf immer mehr Eindrücke von dem, was da unten getrieben wird, von dem, was die Menschen da unten denken und fühlen; und es ist für jede Seele so, daß sie ganz bestimmte Eindrücke bekommt. So zum Beispiel kann eine Seele sich hereinleben in der zweiten Hälfte des geistigen Lebens ihrer neuen Geburt entgegen, und immer mehr und mehr schaut sie da unten jene Menschen, die, sagen wir, da unten das spätere Zeitalter vorbereiten: die geistig wirksamen Menschen. Einzelne von diesen geistig wirksamen Menschen werden der Seele ganz besonders wertvoll. Ja, es kommt vor, daß man von der geistigen Welt aus auf eine oder zwei Gestalten, die auf der Erde sich betätigen, ganz besonders herabsieht. Ein Mensch zum Beispiel, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geboren worden ist, war, nehmen wir an, am Anfang des neunzehnten und in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in der geistigen Welt; aber er schaute herunter auf die bedeutsamen Menschen, welche die Kultur damals beeinflußten. Einzelne daraus findet er besonders wertvoll, sie sind ihm besonders lieb. Das ist eines, was man da erlebt: daß man herunterschaut auf die Menschen, die da unten sich entwickeln. Aber indem man da herunterschaut, beeinflußt man diese Menschen

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auch, doch nicht so, daß dadurch die Freiheit beeinträchtigt würde; man beeinflußt sie so, daß gewisse Dinge, die in ihrer Seele leben, leichter in ihrer Seele auftauchen dadurch, daß von der geistigen Welt aus irgendeine Seele auf sie herunterblickt. So werden Erdenmenschen zum Schaffen, zur Tätigkeit angeregt durch Seelen, welche erst später als diese Erdenmenschen geboren werden und auf sie herunterschauen. In weiteren und auch in intimeren Angelegenheiten kann das der Fall sein.

Zum Beispiel ist der Fall vorgekommen, daß jemand als Seele im achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in der geistigen Welt gelebt hat und einen hervorragenden Menschen der Erdenwelt sich geradezu zu seinem Ideal genommen hat: wie er dann hat werden wollen wie dieser, ihm hat nachstreben wollen nach seiner Geburt; man sieht zum Beispiel die Bücher eines solchen Menschen, dem man nacheifern will nach der Geburt.

Man sieht also mit einer gewissen inneren Sehnsucht, mit einem gewissen inneren Trieb so vom Himmel auf die Erde herunter, wie man - allerdings mit etwas anderem Gefühl - als ein lebender Mensch mit Sehnsucht nach dem Jenseits, nach dem Himmel aufblickt. Nur ist dieser beträchtliche Unterschied, daß, wenn man als Erdenmensch ohne die Erkenntnis der Geisteswissenschaft zum Himmel aufblickt, das ziemlich unbestimmt bleibt. Der Mensch im Himmel aber, derjenige, der in der geistigen Welt lebt, hat die Eigentümlichkeit, daß er die Verhältnisse der Erde, die Menschenseele, die er besonders verehrt, deren Schriften er vielleicht lesen will, auch ganz besonders genau sieht von der geistigen Welt aus.

Kurz, man lernt in der zweiten Hälfte seines geistigen Daseins zwischen Tod und einer neuen Geburt in Einzelheiten die Menschenseelen kennen, man lernt in Seelen hineinschauen. Und wir selber, die wir jetzt leben, wir können uns bewußt sein, daß da oben in der geistigen Welt Seelen leben, die darauf warten, in den nächsten Jahrzehnten geboren zu werden, die in unsere Seelen schauen mit einem sehnsüchtigen Blick und die in unseren Seelen dasjenige erblicken, was sie brauchen für ihre Vorbereitung zur Erdenwelt. Sie sehen unsere Seelen in dieser Zeit ihres geistigen Lebens so

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genau, wie der Erdenmensch seinen Himmel ungenau sieht.

Das ist wiederum so ein Bild, das uns zeigt, wie wir, wenn wir die geistigen Welten auch nur ein wenig kennenlernen, wirklich zu der Empfindung kommen: Wir sind beobachtet. Denn das sind wir vielfach. Es richten sich die Blicke der geistigen Wesen und namentlich derjenigen, die geboren werden sollen, auf unsere Seelen. Daraus ersehen wir, daß Geisteswissenschaft auch in dieser Beziehung durchaus nicht etwas Schlechtes den Menschen gibt, denn es wird durch sie der Mensch angeleitet, würdig zu sein dessen, was in seiner Seele beobachtet wird von den noch ungeborenen Seelen.

Wenn die hellsichtige Forschung sich auf diese Dinge einläßt, dann erlebt sie allerdings bedeutsame, oft erschütternde Dinge. Und zu den wirklich in hohem Grade erschütternden Dingen gehört es, wenn man hinaufblickt in die geistigen Welten zu den Seelen, die auf dem Wege sind geboren zu werden, und sieht, wie sie herunterschauen auf die Erde, um nach denjenigen zu blicken, die ihre Eltern werden könnten. Für ältere Zeiten war das sogar noch bedeutsamer; für unsere Zeiten ist das schon weniger bedeutsam geworden. Aber es gehört noch immer zu den erschütterndsten Ereignissen, solche Seelen zu beobachten. Denn da kann man die allerverschiedensten Eindrücke erhalten. Hier ein Eindruck, den ich schildern möchte nach der Wirklichkeit.

Eine Seele, die sich anschickt verkörpert zu werden, weiß zum Beispiel, daß sie zu ihrem nächsten Erdenleben eine gewisse Art von Erziehung braucht, eine gewisse Art von Kenntnissen, die sie aufnehmen muß schon in früher Jugend. Aber sie sieht nun: Ja, da und dort kann ich die Möglichkeit finden, solche Erkenntnisse zu gewinnen. - Aber das ist oftmals nur möglich, wenn man in der Zeit verzichtet auf ein solches Elternpaar, das einem ein glückliches Dasein in anderer Beziehung geben könnte, und wenn man seine Zuflucht nimmt zu einem Elternpaar, das einem vielleicht kein glückliches Leben gewähren kann. Würde man ein anderes Elternpaar vorziehen, so würde man sich sagen müssen: Gerade das Wichtigste kannst du nicht erreichen.

Man darf nicht alle Verhältnisse des geistigen Lebens sich so verschieden vorstellen von denen auf

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der Erde. So sieht man Seelen, die vor der Geburt in furchtbarstem Kampf sind, sieht zum Beispiel eine Seele, die sich sagt: Ich werde vielleicht in meiner Jugend mißhandelt von einem rohen Elternpaar. - Wenn eine solche Seele in diese Lage kommt, dann gibt das furchtbare innere Kämpfe für sie. Und man sieht in der geistigen Welt vielen Seelen an, die an die Vorbereitung für die Geburt schreiten, wie sie sich diese ungeheuren Kämpfe bereiten. Dazu muß man nehmen, daß man in der geistigen Welt diese Kämpfe etwa wie eine Art von Außenwelt vor sich hat.

In der geistigen Welt ist das, was ich jetzt schilderte, nicht nur innerer Seelenkampf, nicht nur Kampf des Gemütes, sondern diese Kämpfe projizieren sich nach außen, und man hat sie sozusagen um sich. Man sieht in aller bildlichen Anschaulichkeit die Imaginationen, die einem darstellen, wie diese Seelen innerlich gespalten zu ihrer nächsten Inkarnation schreiten müssen. Wenn wir diese Verhältnisse uns vor Augen führen, so können wir natürlich leicht auf den Gedanken kommen, warum so viele Menschen die Geisteswissenschaft gar nicht mögen. Denn am meisten würden es die Menschen lieben, wenn es wahr wäre, daß man nach dem Tode gleich in die ewige Seligkeit für alle Zeiten einginge. Das ist aber nicht so. Und es ist gut, daß die Dinge so sind, wie sie sind, denn unter diesen Verhältnissen wird die Welt schon den Grad von Vollkommenheit erreichen, den sie erreichen muß.

Hineinzublicken in das eigene oder in das fremde Leben innerhalb der geistigen Welt, dazu werden wir kurioserweise durch die Kräfte, die wir vom Ätherleibe beim Gehenlernen ersparen, befähigt. Aber diese Kräfte, wenn sie wirklich entwickelt werden, haben einen gewissen Vorzug - das zeigt das praktische Hellsehertum - vor denjenigen Hellseherkräften, welche entwickelt werden zum Zurückschauen in die früheren Erdenleben. Ich bitte, diesen Unterschied sehr wohl zu berücksichtigen, denn er ist in vielem Sinne aufklärend über so manches.

Durch nichts wird ein gefährliches Hellsehen leichter entwickelt als durch die Entwickelung derjenigen Kräfte, die eigentlich beim heutigen Menschen für die Sprachbildungsorgane da sind, die ihn

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befähigen, wenn er sie zurückhält, zum Zurückschauen in frühere Erdenleben.
Denn diese Kräfte hängen allermeist in der menschlichen Natur mit den niederen Instinkten und Leidenschaften zusammen. Und man kommt durch nichts so sehr in die Nähe von Luzifer und Ahriman, als wenn man gerade diese Kräfte entwickelt, die in einer gewissen Höhe allerdings gestatten, in frühere Erdenleben bei sich und anderen zurückzublicken. Zu Kräften der Täuschung führen sie; aber namentlich führen sie dazu, wenn sie nicht richtig entwickelt werden, daß der Hellseher unter dem Einfluß dieser Kräfte moralisch eher herunterkommen kann als herauf - so daß diese Kräfte, die gerade befähigen, in frühere Erdenleben zu schauen, die gefährlichsten sind. Man darf diese Kräfte nur entwickeln, wenn man zugleich voll bedacht ist auf die Entwickelung der reinen Moralität im Menschen.

Deshalb, weil man angewiesen ist, auf die reinste Moralität im Menschen zu sehen, wenn man diese Kräfte ausbilden will, werden sich kundige Lehrer nicht leicht dazu herbeilassen, systematisch die Kräfte, die in die früheren Inkarnationen schauen lassen, zu entwickeln. Und man kann sagen: So verbreitet es ist, ein gewisses niederes Hellsehen zu haben, das in die anderen Welten hineinschaut, das aus geistigen Regionen Schilderungen geben kann, so wenig ist ein wirkliches, sachgemäßes Hineinschauen in die früheren Inkarnationen auf die Weise entwickelt, daß man nur die Sprachkräfte in Betracht zieht.

Gewöhnlich werden daher andere Mittel noch zu Hilfe genommen, wenn man die Menschen dazu führen will, in frühere Inkarnationen zurückzuschauen. Und da kommen wir auf einen interessanten Punkt, der uns zeigt, wie allerdings der Mensch auf Dinge achten muß, auf die man sonst wenig achtet. Daß jemand bloß durch die Entwickelung der Sprachkräfte dazu gebracht würde in seiner geistigen Führung, auf frühere Erdenleben zurückzublicken, das wird sich selten ereignen. Dennoch gibt es viele Menschen, die das in der Gegenwart können; das wird durch andere Mittel gewöhnlich erreicht. Und eines dieser Mittel ist ein solches, das einem sonderbar erscheinen wird, aber durchaus auf einer tieferen Wahrheit beruht.

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Irgend jemand lebt sich in das innere Leben hinein. Es würde ihn zu viel Anstrengung kosten oder vielleicht zu starke Versuchungen herbeiführen, wenn er nur durch die Ausbildung der Sprachkräfte dazu kommen würde, karmisch zurückzuschauen in die früheren Erdenleben. Daher nehmen die geistigen Mächte zu einem anderen Mittel Zuflucht. Wie ein Zufall sieht es aus:

Da erlebt zum Beispiel dieser Mensch, daß ein anderer Mensch ihn antrifft, und nennt ihm einen Namen oder eine bestimmte Zeit oder ein bestimmtes Volk. Und das wirkt auf die Seele von außen so, daß sie durch diese Vorstellung die Unterstützungskräfte für das Hellsehen entwickelt. Und er merkt dann, daß dieser Name oder Hinweis, ohne daß es derjenige, der es gesagt hat, selber weiß, ihn zu dem führt, daß er hineinblicken kann in frühere Erdenleben. Da wird also zu einem äußeren Mittel Zuflucht genommen. Da hört der Betreffende einen Namen oder ein Zeitalter oder einen Volksnamen und wird wie von außen angeregt, in die früheren Erdeninkarnationen zurückzublicken. Solche Anregungen von außen sind zuweilen für die hellseherische Betrachtung der Welt außerordentlich wichtig. Man erlebt etwas scheinbar ganz Zufälliges, aber es strahlt davon aus eine Anregung für hellsichtige Kräfte, die man sonst nur rudimentär entwickelt hätte.

Das sind solche aphoristische Andeutungen, die ich geben möchte über das Hereinragen der geistigen Welt in unsere Erdenwelt. Denn dieses Hereinragen ist in der Tat sehr kompliziert. Also das Zurückblicken in frühere Erdenleben hat es mit verhältnismäßig gefährlichen, weil versuchenden Kräften zu tun.

Dagegen wird kaum jemand, der die hellsichtigen Kräfte ausbildet, um einen Einblick zu erhalten in das Leben, das im Geiste vorangegangen ist der Geburt, leicht versucht werden können, gerade diese hellsichtigen Kräfte zu mißbrauchen. Und in der Regel werden es Seelen sein mit einer gewissen Reinheit, mit einer gewissen natürlichen Moralität, die mit einer gewissen Sicherheit zurückblicken in das Leben im Geistigen, das vorangegangen ist dem gegenwärtigen Erdenleben. Das hängt damit zusammen, daß die Kräfte, die verwendet werden als hellsichtige Kräfte, um gerade in

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diese Zeit hineinzuschauen, die kindlichen Kräfte sind, diejenigen Kräfte, die man eben vom Gehenlernen erspart. Es sind die unschuldigsten Kräfte, die der Mensch in seiner Natur hat. - Und ich bitte Sie, darauf zu achten, denn es ist sehr bedeutsam: die unschul­digsten Kräfte sind zugleich diejenigen, durch die man, wenn man sie ausbildet, hineinschaut in das Leben, das der Geburt vorangeht.

Das ist auch dasjenige, was den Anblick des Kindes zu einem so zauberhaft befriedigenden macht, weil das Kind umspielt ist in seiner Aura von den Kräften, von denen der größte Teil benützt wird zum Gehenlernen, von jenen Kräften, die hineinleuchten noch in dasjenige, was der Geburt vorangegangen ist. Und in dieser Beziehung kann für die hellseherische Betrachtung in der Tat das Kind, auf dessen Antlitz sich ausdrückt Unschuld und Weltunerfahrenheit, in seiner Aura ausdrücken etwas, was wahrhaftig interessanter ist als dasjenige, was sich in der Aura vieler Erwachsener ausdrückt. Die im Geistesland durchgemachten Kämpfe, die vorausgegangen sind der Geburt und das Schicksal bestimmen, die machen dasjenige, was aurisch das Kind umspielt, zu etwas ungeheuer Großem und Weisheitsvollem. Und die Weisheit, die das Kind in seiner Aura umspielt, ist wahrhaftig oftmals eine viel größere als diejenige, die der Mensch im späteren Alter äußern kann durch seine Worte. Die Physiognomie des Kindes mag noch unbestimmt sein; derjenige aber, der als Hellseher das Kind sieht, kann ungeheuer viel von dem Kinde lernen, wenn er das, was das Kind umspielt, schauen kann mit dem hellsichtigen Blick.

Und wenn dann das, was im kindlichen Alter an Kräften vorhanden ist, später hellsichtig ausgebildet wird, dann sieht man gerade in die konkreten Verhältnisse hinein, die dem Geborenwerden des Menschen lange vorangehen. Es ist vielleicht nicht so die Selbstsucht befriedigend, in diese Welt hineinzuschauen. Für denjenigen aber, der den ganzen Zusammenhang der Welt verstehen will, ist dieses Hineinblicken auch ganz besonders interessant. Und in der AkashaChronik zu forschen in bezug auf gewisse Menschen der Weltgeschichte besteht nicht nur darin, daß man dasjenige erforscht, was sie ausleben auf dem physischen Plane, sondern auch dasjenige,

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wie sie ihr Leben auf dem physischen Plan als Seelen in der geistigen Welt vorbereiten zwischen Tod und einer neuen Geburt.

Die Kräfte aber, die, wenn man sie rein erhält, in frühere Inkarnationen hineinleuchten, die werden weniger im Kindesalter erspart, sondern gerade in dem Alter des Menschen, in dem sich die Leidenschaftlichkeit und manchmal gerade die schlimmsten Leidenschaften im Menschen entwickeln. Diese Kräfte, die ja auch andere Aufgaben noch haben in der menschlichen Natur, werden lange nach den Sprachbildungskräften entwickelt. Sie hängen zusammen mit dem, was sich im Menschen an Gefühlen sinnlicher Liebe entwickelt, und all dem, was damit zusammenhängt. Da besteht eine ganze Verwandtschaft zwischen dem, was zur sinnlichen Liebe führt, und dem, was zur Sprache leitet, welcher Zusammenhang sich ja auch in der Mannesnatur ausdrückt im Stimmbruch, in dem Mutieren der Stimme. Und in diesem Lebenszeitalter werden besonders viele von diesen Kräften erspart. Werden sie rein erhalten, so führen sie zum Rückblick in frühere Erdenleben. Werden sie nicht rein erhalten, werden sie herangebracht an die sinnlichen Instinkte des Menschen, dann können sie zu den größten okkulten Lastern führen. Gerade diese Sorte von hellsichtigen Kräften, die von Erspar­nissen aus diesem Lebensalter herrühren, sind auch am leichtesten der Versuchung ausgesetzt.

So werden Sie den ganzen Zusammenhang verstehen können, meine lieben anthroposophischen Freunde! Der Hellseher, der gerne redet über die Zeit zwischen Tod und neuer Geburt - vielleicht haben einige von Ihnen schon bemerkt, daß über diese sonst wenig geredet wird -, dieser Hellseher hat in sich namentlich ausgebildet ersparte Kräfte des frühesten Kindesalters. Bei Hellsehern, die - und das meistens mit Unfug - viel reden über frühere Inkarnationen von Menschen, was sehr häufig vorkommt, denn manche Leute haben die Aussagen über frühere Inkarnationen nur so auf dem Präsentierteller, bei denen muß man aus dem Grunde mißtrauisch sein, weil allzuleicht auf diesem Gebiete die Kräfte herangezogen werden können, die am allermeisten der Versuchung unterliegen können. Denn die Kräfte, die man dafür ersparen kann, die erspart man in der Zeit,

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wo sich die sinnliche Liebe entwickelt und wo man noch nicht äußerlich im sozialen Leben steht. Diese Kräfte führen zuweilen zu vielem Unfug, insbesondere führen sie zu einem bestimmten okkulten Unfug, weil sie am meisten dazu beitragen, Täuschung über Täuschung hervorzurufen auf dem Gebiete der geistigen Welt.

Warum sind denn die Angaben solcher Hellseher, die Versuchungen ausgesetzt sind, so häufig falsch? Weil unter den auf diese Weise ersparten Kräften aus diesem Lebensalter mit der Anwendung dieser Kräfte zugleich aus dem Menschen wie ein Nebel aufsteigen die niederen Instinkte und Triebe. Und wenn diese aufsteigen, dann kommen Ahriman und die ahrimanischen Geister und formen aus dem, was da aufsteigt, Gespenster, so daß man diese Gespenster sehen kann und sie für frühere Inkarnationen hält.

Die Art von Hellsehen, die notwendig ist, um Verhältnisse zu schildern, wie sie in der «Geheimwissenschaft» dargestellt sind, die wird besonders leicht entwickelt werden können, wenn solche Kräfte erspart werden, die erst im späteren Lebensalter zurückgehalten werden können. Und da man in diesem Lebensalter, nach dem einundzwanzigsten bis achtundzwanzigsten Jahre, in der Regel solche Kräfte entwickelt, die sich mehr auf das intellektuelle Leben beziehen, auf das Leben, das man schon mit einer gewissen Nüchternheit betrachtet, so werden Untersuchungen auf diesem Gebiete am allerwenigsten dem Irrtum und der Täuschung ausgesetzt sein.

So haben wir also gesehen,

  1. daß die Einsichten in die großen geistigen Weltenverhältnisse durch Ausbildung derjenigen Kräfte gewonnen werden, welche in der Menschennatur zur Bearbeitung des Gehirns wirken.
  2. Das Hineinschauen in die früheren Erdenleben wird durch Ausbildung derjenigen Kräfte erreicht, welche namentlich erspart werden im Jugendalter, wenn die sprachbildenden Kräfte nicht mehr zur Sprachbildung verwendet werden und im Reiche der sinnlichen Triebe und ihrer Organe walten.
  3. Das eigentliche Geistgebiet, das Gebiet, das insbesondere interessant wird da, wo sich das neue Leben vorbereitet, das kann erforscht werden durch die Kräfte, die wir namentlich ersparen im allerersten Kindesalter, in dem Alter, wo man sozusagen das Gehen lernt.
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Dies sind allerdings merkwürdige Tatsachen, doch muß man sich schon gewöhnen, wenn man in die geistigen Welten dringen will, viele Vorstellungen aufzunehmen, die man am Anfang als paradox betrachtet. Aber die geistige Welt ist auch wirklich nicht dazu da, um eine bloße Fortsetzung der sinnlich-physischen Welt zu sein, sondern sie ist eine Welt, die in vieler Beziehung gerade entgegengesetzt der physischen Welt ist. Und der Mensch erscheint uns gerade dann als ein so bedeutungsvoll im Weltenall stehendes Wesen, wenn wir auf der einen Seite auf dasjenige blicken, was er als sein Schicksal, als seine Fähigkeiten, als seine Tüchtigkeiten in seinem Erdenleben durchmacht, und auf der anderen Seite - eben durch das Kennenlernen der Geistigkeit - darauf blicken, wie etwas von einem dem irdischen ganz verschiedenen Leben durchgemacht wird vom Menschen zwischen Tod und einer neuen Geburt. Da erst erscheint uns der Mensch in seiner wahren Bedeutung und Bestimmung, wenn wir dies ins Auge fassen!

So wollte ich Ihnen in diesen zwei Vorträgen eine Darstellung, eine Schilderung geben von verschiedenen Dingen der geistigen Welt. Ich wollte dies in mehr aphoristischer Weise tun, weil wir zum ersten Male hier in dieser Stadt beisammen waren, weil die meisten auch die systematischen Darstellungen schon kennengelernt haben aus den Büchern und Schriften und weil ich zu dem oder jenem noch eine Ergänzung liefern wollte. Das schien mir für unsere Freunde in dieser Stadt nützlicher zu sein, als wenn ich ein Kapitel der Geisteswissenschaft gewählt hätte, das zusammenhängender gewesen wäre. Man möchte ja - das lassen Sie mich am Schlusse unserer auch mich so sehr erfreuenden Zusammenkunft hier aussprechen -, man möchte ja in der Gegenwart von der Geisteswissenschaft, daß sie so viel als möglich in die Herzen und Seelen der Menschen einzieht! Denn zweierlei ist wichtig. Erstens, wenn wir das Leben um uns betrachten und auf die Tatsachen dieses Lebens hinblicken, sehen, wie die Menschen, selbst durch die größten Errungenschaften der Kultur, immer materieller und materiel1er

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werden, dann zeigt sich uns, wie immer mehr und mehr der Menschheit diese Geisteswissenschaft notwendig ist, wie die Menschen sie brauchen, gerade weil das äußere Leben den Menschen materialistisch macht. Weil gerade die größten Errungenschaften des äußeren Lebens den Menschen materialistisch machen müssen, bedarf er des Gegengewichtes der Geisteswissenschaft. Geisteswis­senschaft ist eine Notwendigkeit des Erdenlebens der Menschheit und wird es immer mehr und mehr werden gegen die nächste Zu­kunft hin. Und wer bedenkt, wie das äußere Leben im Materialismus durch die größten Errungenschaften der menschlichen Kultur veröden, nach und nach ersterben müßte, der wird am meisten die Sehnsucht in sich verspüren, daß Geisteswissenschaft einziehen möge in die Herzen und Seelen der Menschen. Unsere Kultur wird immer größere und größere Fortschritte machen; aber so wahr es ist, daß viele Singvögel, die früher die Gegenden bevölkerten, in solchen Gegenden verschwinden, wo sich die Schornsteine der Fabriken erheben, so wahr ist es, daß - trotzdem wir Eisenbahnen, Dampf-schiffe und alles das, was uns die Kultur geben kann, Telephon, Luftschiffe und so weiter brauchen, trotzdem nichts gegen die Fortschritte der äußeren Kultur vorgebracht werden soll -, so wahr ist es doch, daß wie die Singvögel durch den Rauch der Schornsteine vertrieben werden - Seelenglück und Seelenfrische und Seelenharmonie und Seelenleben ersterben müßten unter dem Einfluß der materiellen Kultur, wenn nicht Geisteswissenschaft den Menschenseelen die Spiritualität zuführte. Daher muß derjenige, der die Verhältnisse durchschaut, tiefste Sehnsucht haben nach der Verbreitung der Geisteswissenschaft, denn das ist eine Notwendigkeit.

Auf der anderen Seite steht die andere Tatsache, daß wegen dieser materialistischen Kultur die Menschen niemals so stark Geisteswissenschaft zurückgewiesen, ja gehaßt haben wie heute. - Und diesen beiden Tatsachen der Notwendigkeit und auch des Mißver­stehens stehen wir heute gegenüber wie zwei Säulen, durch die wir durchzuschreiten haben, wenn wir Geisteswissenschaft in der Welt schaffen wollen. Für uns aber, die wir versuchen wollen, unsere Seelen für diese Geisteswissenschaft reif zu machen, wird auf jeder

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dieser Säulen eine Aufforderung, eine starke Aufforderung stehen: alles zu tun, was uns selber und diejenigen Menschen, die es wollen, zur Geisteswissenschaft heranbringt.

Von diesem Gesichtspunkte aus wollte ich zu Ihnen auch gesprochen haben, da ich das erste Mal in dieser Stadt spreche. Und von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich als Abschiedsgruß die Worte zu Ihnen sprechen: daß einiges von dem, was ich sagen durfte, in Ihre Herzen und Gefühle, nicht nur in Ihren Verstand, übergegangen sein möchte! So daß Sie sich dadurch noch tiefer und noch gründlicher mit uns und allen verbunden fühlen, die diese Bewegung gerne in die Welt tragen möchten, mehr in die Welt tragen möchten, als sie es bisher getan haben! Da wir noch nicht räumlich zusammensein konnten und es in diesen Tagen zum ersten Male waren, wünschen wir alle, daß dieses Dasein unsere Seelenbande inniger, fester gemacht habe.

Dies wünschend, möchte ich von Ihnen, meine lieben Freunde, und von dieser schönen Stadt Abschied nehmen in dem Bewußtsein, daß, wenn so etwas geschehen ist, dann auch dieses räumliche Zusammensein eine Anregung gegeben hat zu einem nicht vom Raume und von der Zeit abhängigen Zusammensein. Lassen Sie mich Ihnen als Abschiedsgruß sagen: Es möge durch unser Zusammensein im Raume die Anregung gegeben worden sein zu einem bleibenden, immerwährenden Zusammensein im Geiste.