Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 343 Priesterkurse II

23. Vortrag Dornach 7. Oktober 1921, nachmittags.

Zur Eignung von Frauen als Priester. Diesbezügliche Veränderungen seit Beginn der Bewußtseinsseele. Begründung freier Gemeinden durch Frauen; damit verbundene Risiken.

Beantwortung von Fragen nach der Beziehung zu den Verstorbenen, der religiösen Erneuerung inbezug auf Proletariat und Landbevölkerung, u.a.

Emil Bock: Damit man sieht, was alles gewünscht wird, ist es vielleicht besser, wenn die schriftlich eingelaufenen Fragen persönlich gestellt werden.

Rudolf Steiner: Es ist von gestern noch die Frage über die Frauen geblieben. Vielleicht werde ich zuerst ein wenig über diese Frage sprechen, die gestern gestellt worden ist in bezug auf die Teilnahme der Frau an derjenigen Bewegung, um die es sich hier handelt.

Nun, ich glaube, daß in der Tat die Zeit gekommen ist, in welcher die Frau durchaus in Gleichberechtigung teilnehmen soll an allen Zweigen des öffentlichen Lebens. Also darüber dürfte wohl kein Zweifel sein, daß der Eingang der Frau in diese Bewegung ein ge­rechtfertigter ist, und daß die Frau so zu behandeln wäre wie die Männer.

Nur, möchte ich sagen, wäre es notwendig, daß man dies auch bemerkt. Das ist nämlich bisher die große Enttäuschung gewesen, daß das Eintreten der Frau in die Bewegungen, in die einzutre­ten ihr gelungen ist, nicht eigentlich hat bemerkt werden können, höchstens bemerkt wurde in bezug auf manche Äußerlichkeiten, auf untergeordnete Dinge, aber nicht eigentlich in bezug auf das Kultur-Nuancieren. Sie werden ja wohl alle die tiefe Enttäuschung erlebt haben, als die Frau nun sogar in den deutschen Reichstag eingezogen ist und absolut keine irgendwie geartete Änderung durch die Teilnahme der Frau sich herausgestellt hat.

Ich habe schon gestern darauf aufmerksam gemacht, daß ich vor Jahren zu einer in gewissem Sinne gemäßigten, aber nach anderer Richtung sehr regen Frauenrechtlerin - Gabriele Reuter - gesagt habe, die Frau müsse gerade ihre Eigenart in die Bewegungen hineintragen und nicht sich hineinfinden in das, was schon gegeben ist durch die bisherige Kultur, die ja vor allen Dingen eine Männerkul­tur ist.

Sie wissen ja: Was dieser Erscheinung zugrundeliegt, daß die Frau nicht eigentlich so eingreift, daß man ihr Eingreifen als Schat­tierung [im Kulturleben] bemerkt, das hat einmal Bebel erklärt in

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einer zwar theoretisch innerhalb des Darwinismus gerechtfertigten, der Wirklichkeit gegenüber aber sonderbaren Art.

Er sagte, es sei ja selbstverständlich, daß jedes Wesen, wenn es die Welt betritt, sich erst an die Verhältnisse anpassen müsse, und da die Frauen bisher nicht die Möglichkeit gehabt hätten, sich an die Verhältnisse anzupassen, so müsse man erst warten, bis eine gewisse Zeit vorüberge­gangen ist. Wenn die Frauen dann Gelegenheit gehabt hätten, ihre alten ererbten Merkmale abzulegen, dann würde die Anpassung schon besser vollzogen worden sein. Gegenwärtig stünden eben die Frauen noch zu sehr unter dem Einfluß ihrer ererbten Merkmale.

Nun, meine lieben Freunde, es wird in keiner Zukunft die Vererbung bei den Frauen anders sein als heute, nämlich daß auch sie von einem Vater und einer Mutter abstammen, geradeso wie ihre Brüder, so daß nach dieser Richtung hin von einer Vererbung durch Generationen und von einer Anpassung selbstverständlich nicht gesprochen werden kann. Das ist ja ganz selbstverständlich. Es handelt sich da also in der Hauptsache um eine bloße Rederei.

Auf der anderen Seite kommt natürlich sehr in Betracht, daß gerade für ein solches Gebiet, wie es das religiöse Leben ist, eine außerordentliche Bereicherung eintreten kann, wenn die Frauen ihr besonderes Naturell mitbringen.

Obwohl die Frau [bisher] nicht ihren Anteil in die Bewegungen geworfen hat, in die sie eingetreten ist, hat man trotzdem dieses Naturell durchaus auch innerhalb der modernen Frauenemanzipationsbestrebungen bemerken können. Es handelt sich bei der Frau darum, daß sie vor allen Dingen weibliche Begriffe hat.

Es ist also durchaus möglich, daß die Frau sich aufschwingt zu einem gewissen kongenialeren Verständnis desjenigen, was eben nicht in scharf konturierten Begriffen an die Welt treten kann, weil es dann der Wirklichkeit nicht entsprechen würde. Also die leichtere Auffassungsfähigkeit der Frau ist ohne weiteres gegeben.

Dem Mann ist es außerordentlich schwierig, die Dinge ohne scharf konturierte Begriffe zu fassen; dadurch wird es ihm nicht leicht, sich in solche Gebiete hineinzufinden, bei denen in weiblichen Begriffen charakterisiert werden muß.

So handelt es sich darum,

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daß gerade bei der Vergeistigung unserer Kultur die Frau einen großen Anteil wird üben müssen. Nur wird sie versuchen müssen, dasjenige, was ihr eigen ist an weniger scharfer Begriffskonturierung, auch scharf geltend zu machen, und nicht die Begriffskon­turierung der Männer einfach nachzuahmen, zum Beispiel im Studium.

Es wäre schon etwas gewonnen gewesen, wenn wir zum Beispiel in der Medizin oder in anderen Zweigen, in der Philologie und so weiter, wo die Frau begonnen hat mitzuarbeiten, hätten erleben können, daß die Frau mit ihrer leichteren Beweglichkeit, mit ihrer leichteren Anpassungsfähigkeit wirklich eingegriffen hätte. Die Medizinerinnen sind in der Regel so, daß sie in ihren Gedanken wirklich ein Abklatsch sind von dem, was sie gelernt haben, noch mehr als die Männer.

So ist es schon notwendig, daß diese Eigenschaften scharf ins Feld geführt werden, aber auf der anderen Seite hat die Frau, eben wegen dieser Eigenschaften, eine außerordentliche Selbstkritik notwendig. Die Frau ist subjektiver oder wenigstens mehr zur Subjektivität geneigt als der Mann.

Der Mann hat zum Beispiel schon mehr Gefühl dafür, daß man sich von der Wahrheit einer Sache überzeugen muß, die man behauptet. Gerade bei der Frau wird es viel leichter so sein, daß sie nach dem subjektiven Gefühl urteilt.

Das wird deshalb hier in Betracht kommen, weil die Frau, wenn sie an dieser Bewegung teilnimmt, wahr­scheinlich die Gefühlsfärbungen für das, was zu geben ist, außerordentlich fein wird geben können. Sie wird aber Schwierigkeiten haben, wenn es sich darum handelt, einen im Objektiven wurzelnden Willen wirklich geltend zu machen, und es ist gerade dieser Willensfaktor, welcher stark in Betracht kommt.

Beim Mann ist die Sache so, daß man ihn im allgemeinen so charakterisieren kann, daß der größere Teil seines Verstandes verwendet wird, um in den Organismus [in das Gehirn] organisierend hineinzugehen; daher, möchte ich sagen, behält er für sein seelisches Leben einen zwar scharfen, aber eben nicht beweglichen Verstand. Sein Wille tritt weniger in seinen [Stoffwechsel-] Organismus ein, daher hat er einen starken Willen.

Bei der Frau ist es so, daß der Wille mehr in den Organismus hineintritt, weniger der Verstand. Der Frauenleib ist weniger verstandesmäßig, weniger auf

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den Verstand hin konstruiert als der Männerleib; daher ist die Frau im allgemeinen, trotz der leichteren Beweglichkeit oder gerade we­gen dieser leichteren Beweglichkeit des Verstandes mit einem größeren Maß von Begriffen, mit weiteren Begriffen eben und sogar mit einer größeren Zahl von Begriffen ausgestattet als der Mann.

Das wird ergeben,

aber wenn nun beide wirklich zusammenwirken, dann wird gerade im Gemein­schaftsleben etwas außerordentlich Harmonisches herauskommen können.

Natürlich, wenn man solche Dinge erörtert, spricht man etwas im allgemeinen. Das läßt sich auch gar nicht anders machen, weil ja die Dinge, die man bespricht, eben mehr richtunggebende Dinge sein müssen als irgend etwas, was etwa schon auf Beobachtung fußt.

Im ganzen aber ist zu sagen, daß es jedenfalls möglich ist, daß die Frau durch eine starke Selbsterziehung ein starkes Verantwortlichkeitsgefühl entwickelt, wenn sie nun gerade in diese Bewegung eintritt, denn das Fehlen des Verantwortlichkeitsgefühles ist ja etwas, was durchaus da bemerkt werden konnte, wo die Frau in der letzten Zeit in mehr geistige Bewegungen eingetreten ist.

Es ist zum Beispiel so, sagen wir, daß der Mann viel eher dazu zu bringen ist, irgend etwas im vertraulichen Kreise zu halten als die Frau, die außerordentlich leicht, wenn sie eine Freundin hat, diese Freundin für absolut sicher hält und dann die Dinge nur eben an einen Menschen ausplaudert, trotzdem es ja auch unter Männern zahlreiche alte Frauen gibt.

Das ist eben eine Erscheinung, die man hat erleben müssen und die sehr, sehr schwer ins Gewicht fällt. Also das Verantwortungsgefühl, das ist etwas, was ganz besonders wird ausgebildet werden müssen.

Es konnte ja zum Beispiel in der Medizin beobachtet werden, wie besonders die feineren Operationen, Au­genoperationen und dergleichen, von Frauen haben viel präziser, besser und geschickter ausgeführt werden können als von Männern. Das wird sich auch bis ins Spirituelle fortsetzen, und es wird sich

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beim Kultus zeigen, daß die Frau den Kultus wirklich in einer ganz besonderen Art wird ausführen können, daß sie sich auch viel leich­ter wird hineinfühlen können in die Ausführung des Kultus.

Dagegen hat sich dann [etwas anderes] gezeigt. Ich brauche nur daran zu erinnern, wie an der Spitze der Theosophischen Bewegung durch Jahre eine Frau gestanden hat und noch steht - Annie Besant -, die ja für vieles, namentlich, was die Behandlung des Äußeren betrifft, eine sehr geschickte Hand hat, die aber gerade wiederum hinneigt zu einer ganz besonderen Eitelkeit. Das ist etwas, was sich dann heranentwickeln muß: ein scharfes Gefühl in der Selbsterziehung für das Überwinden der Eitelkeit und des Ehrgeizes. In alledem hat die Frau viel leichter Versuchungen äußerer und innerer Art als der Mann.

Alle diese Dinge führen zuletzt darauf, daß die Frau in einer gewissen Weise weniger beständig ist, daß sie sehr leicht pendelt zwischen diesen Zweien, die Sie gesehen haben, Ahriman auf der einen Seite, Luzifer auf der anderen Seite. Der Mensch pendelt ja natürlich im Rhythmus von einem zum anderen, aber die Frau mit einer außerordentlichen Behendigkeit und sehr häufig so, daß die Gleichgewichtslage stark labil wird.

Das ist durchaus zu berücksichtigen also, und ich könnte in dieser Angelegenheit noch weiter fort­fahren, aber es ist eigentlich nicht nötig. Die Frage muß praktisch so beantwortet werden, daß heute einfach gar kein Zweifel daran sein kann, daß die Frau teilnehmen können muß an solchen Bewegungen, daß sie aber die notwendige Selbsterziehung für solche Bewe­gungen durchaus zu üben hat.

Das muß man ja aussprechen, daß die Frauen teilnehmen müssen aus dem allgemeinen Gang der Menschheitsentwickelung heraus. Sehen Sie, wir haben bis zum 15. Jahrhundert die Entwickelung des Menschen so gehabt, daß er damals gelangt war bis zur sogenannten Verstandes- oder Gemütsseele. In bezug auf die Verstandes- oder Gemütsseele sind Mann und Frau sehr verschieden. Daher konnte es auch nicht anders sein, als daß innerhalb dieses Zeitraumes die Frau von gewissen Dingen ausgeschlossen worden ist, und wo man diese alten Usancen beibehalten hat, zum Beispiel in der Freimaurerei, da werden ja die Frauen auch

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heute noch ausgeschlossen. Das beruht auf Traditionen, und gerade das ist dem Kultus der Freimaurerei selber anzusehen. Daß die Frau als solche absolut gleichberechtigt ist, wie gesagt, das wird von der rechtmäßigen Freimaurerei nicht anerkannt. Es ist schon so, daß dem Kultus der Freimaurer eigen ist, daß er nicht in Gemeinsamkeit [mit den Frauen] ausgeführt werden konnte.

Aber seit der Mitte des 15.Jahrhunderts entwickeln wir uns ja immer mehr und mehr zu der Entfaltung der Bewußtseinsseele, und in bezug auf die Bewußtseinsseele ist eigentlich eine solche Differenzierung nicht mehr vorhanden, da strömen die beiderseitigen Eigenschaften [von Mann und Frau] durchaus in ein einheitlich Konfiguriertes hinein.

Es ist selbstverständlich nicht richtig, wenn innerhalb gewisser Bewegungen, die auch auf dem Standpunkt der Reinkarnation stehen, man immer wieder findet, daß Frauen - mit seltenen Ausnahmen -, wenn sie ihre früheren Inkarnationen aufzählen - was natürlich meistens Phantasie ist -, dann lauter Frauen aufzählen, während Männer lauter Männer aufzählen. Das sind natürlich Dinge, die auf phantastischer Ausgestaltung beruhen. Es ist natürlich so, daß die aufeinanderfolgenden Erdenleben in verschiedenen Geschlechtern durchgemacht werden.

Das ist also das, was ich zunächst bei einer solchen Sache, die ja immer problematisch ist und die immer unbefriedigend sein muß, in bezug auf die Stellung der Frau zu sagen habe. Haben Sie (zu Gertrud Spörri) noch etwas besonderes nach dieser Richtung, was Sie gerne besprechen möchten?

Gertrud Spörri: Ich möchte fragen, ob eine Frau heute die Möglichkeit hat, freie Gemeinden selbst zu begründen.

Rudolf Steiner: Ob eine Frau heute die Möglichkeit hat, freie Gemeinden zu begründen? Ja, wissen Sie, ich glaube, daß die Frau nicht nur die Möglichkeit haben wird, freie Gemeinden zu gründen, sondern daß die Frau es manchmal sogar verhältnismäßig leicht haben wird, freie Gemeinden zu gründen. Sie müssen dann nur eben haltbar sein, das heißt, die Frau wird sich bewähren müssen.

Gemeinden

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begründen wird sie verhältnismäßig leicht können, aber in Selbstbeobachtung wird sie das abrechnen müssen, was da ein wenig auf Sensation, auf die Neuheit und so weiter kommt. Aber wir dürfen diese letzteren Dinge ja nicht ausschließen, bloß weil wir uns davor fürchten; wir müssen über diesen Dingen stehen.

Ich fürchte eher, daß es vor der Welt zunächst auch so gehen könnte, wie es der anthroposophischen Bewegung gegangen ist, wo ja in Zeitungsberichten, wenn irgendwo ein anthroposophischer Vortrag ist, einem gewöhnlich vorgerechnet wird, es seien soundsoviele Frauen darin und nur ganz wenige Männer. Im allgemeinen hat sich das ja auch in der Realität ausgedrückt, daß die Frauen viel leichter in der Lage sind, Gruppen zu gründen, Zirkel zu gründen und so weiter. Also das macht sich schon.

Ich habe nur immer gesagt, wenn das hervorgehoben wurde, daß häufig die Frauen in größerer Zahl da waren als die Männer: Das ist nicht Schuld der Frauen, die taten ganz recht, wenn aber die Männer es notwendig finden, Karten zu spielen und deshalb wegbleiben, dann ist das die Schuld der Männer; es zeugt das nicht von einem stark ausgebildeten Geist der Männer, sondern von einer Zurückgebliebenheit der Männer. Das muß man sich schon klarmachen.

Nun, das tritt ja auch gerade in der anthroposophischen Bewegung manchmal außerordentlich störend auf, daß die Frauen rasch sich hineinfinden, aber daß es manchmal an der Tiefe des Hineinfindens fehlt, weil das Aktive, das Willenselement fehlt.

Daher wird bei der Gemeindebildung eine weise Selbsterziehung dieses Wissenselementes und am Anfang, meine ich, ein gewisses zurückhaltendes Element in Frage kommen. Das wird ja vielleicht eine Sache des Taktes sein und muß sich dann im Zusammenwirken mit der Zentralleitung entwickeln, daß nicht am Anfang die Frauen neunzig Prozent der Gemeinden gründen und nur zehn Prozent die Männer.

Ja, das könnte man unter Umständen schon erleben, und es wäre nicht klug, wenn es so geschehen würde. Aber daß wir zu fürchten haben, daß es Frauen weniger gelingen könnte, Gemeinden zu gründen als Männern, das ist etwas, was ich nicht meine, daß es der Fall ist.

Es wird auch ganz gewiß nicht der Fall sein, daß die Frauen-Kirchen etwa bloß von Frauen besucht würden, das heißt,

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mehr als das jetzt der Fall ist bei den Männer-Kirchen, denn manche Kirchen werden ja in der Mehrheit von Frauen besucht; also daran braucht sich gar nichts besonderes zu ändern.

Wir müssen uns durchaus dessen bewußt sein, daß in bezug auf die Dinge, um die es sich hier handelt, gerade in Mitteleuropa nur ein leichter Schleier über den alten Zuständen liegt, wo man allein den Frauen zuge­schrieben hat, daß sie eine gewisse Art göttlicher Offenbarung aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche Welt hereintragen können. Das Wala-Prinzip ist etwas, was da durchaus zutrifft und was, wenn es in würdiger Weise auferweckt wird, nicht etwas ist, was mit scheelen Augen angesehen zu werden braucht.


Nun sind hier aber ein ganzes Schüppel von Fragen.

Gernot Weißhardt: Wie kann der Priester ein Zusammenleben mit den Toten erreichen?

Hubert Sondermann: Ich möchte fragen über die Meditation oder Fürbitte zugunsten der Entschlafenen.

Rudolf Steiner: In welcher Beziehung möchten Sie über diese Frage etwas wissen?

Hubert Sondermann: Wie diese Fürbitte etwa begründet werden kann und wie sie geübt werden kann. Dann über das Begräbnisritual ...

Rudolf Steiner: Das Begräbnisritual werden wir morgen zu besprechen haben.

Nun, für die geisteswissenschaftlich-anthroposophische Forschung ergibt sich eben, daß der Mensch nach dem Tode durchaus noch mit den physisch-irdischen Verhältnissen zusammenhängt und daß man in einer ganz bestimmten Weise diesen Zusammenhang sich vorstellen kann, weil man ihn beobachten kann. Allerdings muß man sich klar darüber sein, daß das Leben hier auf der Erde im Verhältnis zum Leben nach dem Tode vielfach etwas bildet wie eine Ursache im Verhältnis zur Wirkung.

Nehmen wir an, ein Familien­vater ist gestorben, er war Materialist, aber er hat sonst ein Leben geführt, daß er zum Beispiel sehr stark in der Liebe zu seinen Kindern

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aufgegangen ist. Da liegt zunächst eine gewisse Schwierigkeit vor für diejenigen, die die Hinterbliebenen sind, an die Seele des Toten mit Gebeten oder mit Meditationen heranzukommen, denn der Tote nimmt zunächst nur dasjenige wahr, was er erlebt hat bis zu seinem Tode hin, so daß er also, sagen wir, seine Frau und seine Kinder soweit wahrnimmt, als sich ihr Leben entwickelt hat bis zu dem Moment, wo er gestorben ist. Es tut sich eine Wand auf zu den gegenwärtigen Erlebnissen, zu dem gegenwärtigen Sein der Hinter­bliebenen, so daß der Tote außerordentlich schwierig den Zusammenhang mit seinen Angehörigen in der unmittelbaren Gegenwart erleben kann.

Es kommt einem so vor, ja, als wenn er eben nur bis zu diesem bestimmten Zeitpunkt hinkommen würde, da hört es auf; es ist wie eine abgerissene Erinnerung. Das zeigt aber natürlich, daß es eine Bedeutung hat, wie sich die Seele in ihrer Gesinnung zur geistigen Welt verhalten [hat im Leben]. Man kann nicht, ohne daß das Folgen hat für das Leben nach dem Tode, materialistisch oder spirituell sein. Bei Menschen, die spirituell gesinnt sind, zeigt sich [nach dem Tode] sofort, daß sie eine unmittelbare Verbindung haben können mit denjenigen, die zurückgeblieben sind.

Nun ist heute ja die Erfahrungsfähigkeit des Menschen für alles Übersinnliche au­ßerordentlich grob. Die Menschen können kaum irgendwie ein Gefühl entwickeln für die zahlreichen Hereinwirkungen der geistigen Welt, so daß auch der reale Zusammenhang mit den Toten, den viele suchen und der durchaus möglich ist - natürlich nicht im Sinne einer gewöhnlichen trivialen Auslegung -, erschwert ist.

Man kann, um die Empfindungsfähigkeit für diese Dinge etwas zu stärken und zu erhöhen, sich durch Meditationen helfen etwa in der folgenden Richtung: Stellen Sie sich einmal vor, Sie haben sich vorgenommen, an einem bestimmten Tag, sagen wir, um 11 Uhr auszugehen; nun kommt irgend jemand und hält sie um eine halbe Stunde zurück. Nachher entdecken Sie, daß, wenn Sie die halbe Stunde früher fortgegangen wären, Sie zum Beispiel eine Fahrgelegenheit gefunden hätten, von der Sie dann hören, daß alle verunglückt sind - Sie hätten also mit verunglücken müssen. Ich glaube, es ist unbedingt so, daß eine ganze Menge von Menschen dadurch, daß sie Abhaltungen

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gehabt haben, bei dem Pariser Unglück in diesen Tagen nicht verunglückt sind. Lesen Sie keine Zeitungen? Eine große Anzahl von Menschen ist verunglückt bei der Pariser Untergrundbahn.

Wenn man sich solche Dinge überlegt, so wird man schon sehen, wie außerordentlich wenig der Mensch bei der Beurteilung seines Lebens Rücksicht nimmt auf dasjenige, wovor er behütet wird. Wir leben drauflos und schauen nur das an, was uns passiert. Wir nehmen eigentlich nie dasjenige wahr, wovor wir behütet werden.

Es ist natürlich schwer, etwas positiv zu beweisen, wenn man in die geistige Welt sich hineinlebt. Ich habe schon auf folgendes aufmerksam gemacht: Denken Sie zum Beispiel, ich rate jemandem, der krank ist - nehmen wir an, er ist 40 Jahre alt - er soll, sagen wir, keinen Wein trinken und kein Fleisch essen. Mit 48 Jahren stirbt er; nun sagt man: Der ist jung gestorben, trotzdem er in den letzten acht Jahren kein Fleisch gegessen und keinen Wein getrunken hat. - Aber wer kann ermessen, ob er nicht mit 44 Jahren gestorben wäre, wenn er Fleisch gegessen und Wein getrunken hätte?

Was die Leute immer so leichtsinnigerweise das Beweisen nennen, das ist außerordentlich schwierig, wenn es sich um Dinge der übersinnlichen Welt handelt, aber gerade das Nachsinnen über solche Dinge steigert unsere Empfindungsfähigkeit für das Hereinragen der übersinnlichen Welt in die sinnliche Welt.

Ich will das nur anführen, weil ja für diese Beziehung zu den Toten heute noch sehr wenig Verständnis da sein kann, insbesondere im Abendland. Das hindert natürlich nicht, daß wir diese Beziehungen zu den Toten so pflegen, und es ist ganz besonders wirksam, wenn wir diese Beziehung zu den Toten so pflegen, daß wir versuchen, in solchen Gedanken zu leben, in denen die Toten dann auch leicht leben können, und das sind niemals abstrakte Gedanken. Je abstrakter ein Gedanke ist, desto weniger kann der Tote einen solchen Gedanken mit uns gemeinsam haben.

Die Dinge sind alle sehr schwierig auszudrücken, wenn ich versuche, mich verständlich zu machen. Es gibt zum Beispiel für den Toten keine Substantiva; der Tote kennt nicht substantivische Worte, die die abstraktesten sind; er kennt noch Verben, aber vorzugsweise dasjenige, was man aus der Empfindung heraus spricht. Das

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ist für ihn erlebbar.

Dann ist das für ihn erlebbar, was konkret anschaulich ist. Wenn Sie sich also in irgend etwas vertiefen, was Sie mit dem Toten in aller Konkretheit erlebt haben hier auf Erden, sagen wir, Sie erinnern sich, daß Sie mit ihm auf einem Spaziergang waren, er las eine Ähre auf, er sprach etwas -, und Sie erinnern sich bis zu der kleinsten Färbung, dann kann der Tote den Gedanken [mit Ihnen] gemeinsam haben. Das alles sind Vorbereitungen dazu, eine Gemeinschaft mit den Toten entwickeln zu können.

Alles, was sich auf die geistige Welt bezieht, können wir dann, wie ich das immer nenne, dem Toten auch vorlesen. Wenn wir uns einfach in konkreter Weise vorstellen, der Tote ist anwesend, und wir lesen irgend etwas, aber wie gesagt, es muß sich auf die geistige Welt beziehen, dann kann er einen Zusammenhang mit uns entwickeln. Ich würde mir unwahr vorkommen, wenn ich Ihnen diese Dinge, die konkrete Beobachtungen der Geisteswissenschaft sind, nicht vorher mitteilen würde, denn Sie wissen dadurch, daß sich die Behauptungen der Geisteswissenschaft in bezug auf die Toten durchaus auf Konkretes beziehen. Man hat auch die Möglichkeit, das Hinwenden zu den Toten besonders dadurch herbeizuführen, daß man dasjenige, was der Tote mitnimmt in seelischer Beziehung, unterstützt.

So kann ich Ihnen sagen, daß es außerordentlich bedeutsam ist, sich in folgender Weise zu dem Toten zu verhalten: Man weiß, gleich nach dem Tode, unmittelbar danach, erlebt der Mensch ein strömendes Erinnerungsbild an das Leben hier, das nicht so verläuft wie eine gewöhnliche Erinnerung, weil es viel beweglicher, wie gesagt, strömend ist, aber es ist alles Konkrete in diesem Erinnerungsbild darinnen.

Wenn wir dann dem Toten etwas innerlich vorsagen, was in diesem Erinnerungsbild ist, so ist das ein Element, eine Kraft, die nun auch wiederum zu seinem besonderen Wohlsein beitragen kann, die ihn besonders befriedigen wird. Das alles zeigt Ihnen, daß wir als Menschen auf der Erde etwas tun können, um zu den Toten in eine besondere Beziehung zu kommen. Daher können Sie ja auch ermessen, daß die anthroposophische Geisteswissenschaft durchaus davon sprechen muß, daß alles das, was wir in

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unserem Innern für die Toten empfinden, eben etwas Reales ist.

So ist ein Begräbnisritual etwas absolut Reales. Wir leiten damit in einer ähnlichen Weise etwas ein, wie wir durch ein Taufritual für das Leben hier zwischen Geburt und Tod etwas einleiten. Wir geben dem Toten etwas, wenn wir gemeinsame Gedanken an ihn richten, die sich in der Gemeinde hundertfältig verstärken, nicht etwa bloß summieren, sondern vielfach verstärken. Was so an den Toten gerichtet ist, ist durchaus etwas, was in des Toten Blickfeld hineinfällt und den Toten innerlich bereichert.

Sagen Sie nur ja nicht, daß wir dadurch in sein Karma eingreifen. Wenn Sie jemandem 500 Mark gegeben haben - ich weiß nicht, wieviel das nach heutiger Valuta ist -, damit er eine italienische Reise machen und die Gemäl­degalerien in Italien besuchen konnte, so war das durchaus nicht ein widerrechtliches Eingreifen in sein Karma; es war etwas durchaus Erlaubtes, obwohl es mit seinem Karma etwas zu tun hat. Und so ist es auch nicht ein widerrechtliches Eingreifen in das Karma, wenn wir für die Toten etwas tun. Es ist tatsächlich eine Verschönerung, eine Erhöhung, eine Bereicherung für das Leben der Toten, wenn Gedanken oder Handlungen oder dergleichen, in Ritus gekleidet, von uns zu den Toten hinströmen, aber es muß der Verkehr mit den Toten beim inneren Seelenleben bleiben.

Es ist ja mit dem Spiritismus, auch in anderer Beziehung, unendlich viel Unfug getrieben worden. In neuerer Zeit insbesondere ist der Verkehr mit den Toten durch den Spiritismus in eine schreckliche Lage gebracht worden.

Sie wissen ja, daß in spiritistischen Sitzungen vorzugsweise der Verkehr mit den Toten gepflegt wird. Nun, selbstverständlich ist das, was in spiritistischen Sitzungen zutage tritt, großtenteils falsch, aber es bleibt immerhin, trotz alles Falschen, ein gewisser Rest, der aber eigentlich nicht gepflegt werden sollte, aus dem Grunde, weil er etwas ist, was den Menschen immer herunterbringt und nicht hinaufbringt. Es kann dadurch, daß der Mensch sich nicht in eine höhere Welt hinaufentwickelt, sondern die gewöhnliche Welt tiefer in sich hineintreten läßt, eine Art pathologischer Verkehr mit der geistigen Welt entstehen. Das ist ja in der Regel bei Medien auch durchaus der Fall, die auf diese Weise

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sehr häufig dazu gelangen, durch Suggestion den Toten sich nähern zu wollen. Daß da alle möglichen Vorspiegelungen auftreten müs­sen, werden Sie begreifen können.

Es ist natürlich ein absoluter Unsinn, wenn man glaubt, daß der Tote in der Lage ist, die Sprache und die Schrift so zu handhaben, wie das in gesprochenen oder gar in geschriebenen Manifestationen zutage tritt. Das ist natürlich ein völliger Unsinn. Was da zutage tritt, ist absolut nur durch das Medium umgestaltet.

Bitte stellen Sie sich einmal vor, wir säßen hier alle in Frieden zusammen, da täte sich der Fußboden auf und eine Menagerie von Löwen käme hier herauf in diesen Saal. Stellen Sie sich das lebhaft vor! So wie das hier aussehen würde, wenn eine Menagerie von Löwen durch ein Auftun des Fußbodens heraufkommen würde, so ist es für die Toten, wenn wir in spiritistischer Art in ihr Gebiet hineintapsen mit alle dem, was wir als Menschen hier sind. Es ist ein durchaus zutreffendes Bild. Die Toten nehmen, wenn der Verkehr ein realer ist, dadurch Schaden. Es ist das unverantwortlich, was da gerade durch den Spiritismus geleistet werden kann.

Es muß der Verkehr mit den Toten durchaus innerhalb des Seelischen bleiben. Dabei kann es sich nur darum handeln, daß immer nur dasjenige Gebet an die Toten zu richten ist, das die Tendenz hat, zu den Toten hin die Brücke zu finden, und daß auch die Meditation, die rituelle Handlung und so weiter so an die Toten gerichtet werden, daß man dadurch seelisch in Beziehung zu den Toten kommt.

Auf diese Weise ist sowohl der Welt gedient, in welcher die Toten sich befinden, als auch der Welt, in welcher die Lebenden sich befinden; das heißt diejenigen, die auf der Erde lebend sich befinden; denn gar manches, was die Menschen, ohne von dessen Ursprung eine wirkliche Vorstellung zu haben, in das Wort «genial» zusammenfassen, ist in Wirklichkeit eine Eingebung von Toten, die sich in die Gedanken der Menschen hineinfinden. Also das, was wir entwickeln mit Bezug auf die Toten im Kultus, im Gebet, in der Meditation, das sind absolut berechtigte Sachen.

Ein Teilnehmer: Es hängt damit die Frage zusammen, ob das Grab gerade ein besonders günstiger Ort ist, um sich mit dem Toten in Verbindung zu setzen.

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Oder ist es nicht vielleicht so, daß kurze Zeit nach der Einschließung des Toten hier nicht mehr ein besonderer Ort vorliegt, sich mit dem Toten in Verbindung zu setzen?

Rudolf Steiner: Im allgemeinen kann ich sagen, daß bei dem Denken an den Toten, bei dem Beten für den Toten der Ort überhaupt eine außerordentlich geringe Rolle spielt. Es kann ja allerdings vorkommen, daß der Tote eine starke Sehnsucht hat nach dem irdischen Leben zurück, dann würde er gerade zu demjenigen Ort eine gewisse Sehnsucht entwickeln und auch einen Anhaltspunkt haben, da getroffen zu werden, wenn ich so sagen darf, wo zuletzt in Gemeinschaft an ihn gedacht worden ist. Auf diesem Umweg könnte es sein; aber abgesehen von diesem Umweg kann man nicht sagen, daß der Ort, auch nicht der Ort, wo jemand begraben ist, einen großen Einfluß hat auf dasjenige, was wir für den Toten tun können.

Es ist ja so, nicht wahr, daß in den Totenfesten, namentlich in den Aller­seelenfesten, in einer gewissen Weise die Toten geradezu hingeholt werden zu ihrem Grab, aber das ist ja eigentlich etwas, was mehr für die Lebendigen ist als für die Toten. Da muß ich nun den Gedanken doch wieder aufnehmen, den ich vorhin ausgesprochen habe.

Der Tote ragt in seiner Wirksamkeit ja zu den Lebendigen herein, und wir können durchaus sagen: Der Tote nimmt Anteil an der Welt, wie wir im eminentesten Sinn Anteil nehmen an der geistigen Welt, und für Lebende kann es eine gewisse Bedeutung haben, wenn sie in Anknüpfung an das Grab gerade ihre Erinnerungen und ihre Gedanken auch an dem Grabe entwickeln.

So war es natürlich bei den Märtyrern, den sogenannten Heiligen, durchaus nicht wegen der Toten, warum in den ersten christlichen Jahrhunderten der Kultus vorzugsweise an den Gräbern verrichtet worden ist, sondern um derentwillen, die zurückgeblieben sind. Der Altar hat heute noch die Form eines Grabes, das ist durchaus noch die Erinnerung an diejenigen Zeiten, wo der Dienst am Übersinnlichen schon eine Art von Ahnenkultus war; so muß man ihn beurteilen in den ersten Zeiten des Christentums. Das ist mehr für die Lebendigen als für die Toten.


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Ein Teilnehmer: Spielt da die Zeit eine Rolle? Und wie verhält es sich mit der Seelenmesse?

Rudolf Steiner: Die Seelenmesse gehört im wesentlichen zu dem, was man rituell für den Toten tun kann. Nun ist es ja so, daß die Seelenmesse natürlich bald nach dem Tode gelesen werden soll, und das ist auch gut, weil da noch der Ätherleib und der astralische Leib zusammenspielen. Der Ätherleib wird ja sehr bald nach dem Tode abgelegt, so daß die Seelenmesse, wenn sie in die Zeit hinein fällt, in der der Mensch noch seinen ätherischen Leib hat oder wenigstens ihn noch nicht lange abgelegt hat, für ihn auch noch eine sehr starke subjektive Bedeutung hat.

Was die andere Frage betrifft, so möchte ich doch bitten, darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Mensch auf der einen Seite die ob­jektiven Tatsachen zu betrachten hat, und auf der anderen Seite seine Wahrnehmungsfähigkeit.

Gewiß, wenn jemand vor dreißig Jahren gestorben ist, steht er nicht mehr in einer so innigen Verbindung mit der Erde, wie wenn er vor drei Tagen gestorben ist, ganz gewiß. Aber er steht in einer Verbindung, und es handelt sich nur darum, daß die Verbindung nach dreißig Jahren für den Menschen hier schwierig herzustellen ist. Ich kann nicht gerade finden, daß das nicht überhaupt mit der irdischen Entwickelung ein wenig zusam­menfällt, denn ich habe sehr viele Menschen kennengelernt, bei denen die ersten heftigen Schmerzen, die vielleicht stürmisch zum Ausdruck gekommen sind, nachdem sie jemanden verloren haben, nach dreißig Jahren sehr abgedämpft waren, aber ich habe wirklich nie jemanden kennengelernt, bei welchem die Schmerzen größer geworden wären, zugenommen hätten.

Es treten bei den Menschen, die zurückgeblieben sind, Verhältnisse ein, die durchaus dagegen sind, daß in späteren Jahren die Verbindungsbrücke noch eine so lebhafte sein kann wie in vorhergehenden Jahren. Aber wenn mich jemand fragt, ob etwa der Tote nach dreißig Jahren oder nach noch längerer Zeit ganz hinauskommt aus der irdischen Sphäre, dann muß ich das immer verneinen; davon kann keine Rede sein. Die Welt ist so, daß in ihr alles miteinander zusammen ist; es ist durchaus

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so, daß wir ebensogut Rituelles, Zeremonielles nach dreißig Jahren oder nach fünfzig Jahren für den Toten verrichten könnten wie früher.
Das ist durchaus festzuhalten.

Ein Teilnehmer: Ich möchte in dem Zusammenhang um die Erklärung der Stelle im 1. Korintherbrief Kapitel 15, Vers 29 bitten.

Rudolf Steiner: «Was machen die sonst, die sich taufen lassen für die Toten? Wenn die Toten nicht auferstehen, warum lassen sie sich taufen für die Toten?» - Was knüpfen Sie da für eine Frage an?

Ein Teilnehmer: Ob hier eine Beeinflussung des Zustandes der Toten gedacht wird durch die Taufe.

Rudolf Steiner: Was für eine Beeinflussung meinen Sie?

Ein Teilnehmer: Ob überhaupt eine Beeinflussung da ist und in welcher Art. Mir ist diese Stelle völlig unklar.

Rudolf Steiner: Was machen die sonst, die sich taufen lassen für die Toten, wenn die Toten überhaupt nicht auferstehen? - Ist es für Sie nicht die Frage der Auferstehung?

Nun, nicht wahr, hier handelt es sich darum, daß zugrundeliegt die Auferstehungsidee, die vorausge­setzt wird, und dann darum, daß wir ganz ernst nehmen, daß der Tote eine Beziehung hat zu den Lebendigen, zu den auf der Erde hier Lebenden. Wenn der Tote ein fortdauerndes Leben hat, dann ist dieses Leben ja in der mannigfaltigsten Weise modifiziert, und wenn sein Leben ein solches in Christus war, dann ist tatsächlich die Verbindung, welche mit dem Toten bleibt, ein stärkendes Element für uns.

Wir können also folgendes sagen: Nehmen wir an, wir hätten einen nach irgendeiner Richtung besonders bedeutsamen Menschen erlebt, ich will jetzt nicht von geistigen oder seelischen Eigenschaften sprechen, sondern nur von einem bedeutsamen Men­schen, der gestorben ist, und mit dem wir selbst in der Art, wie wir es können, gemüthaft, gedankenhaft in einem lebendigen Zusam­menhang stehen.


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Ich will zunächst von etwas anderem ausgehen. Sie werden, wenn Sie eine lebendige Pädagogik entwickeln, schon außerordentlich an Kraft gewinnen, namentlich an Kraft, die darauf ausgehen kann, die Kinder zugänglich zu machen für gewisse Ermahnungen, wenn Sie gewissermaßen erziehen im Namen eines Toten. Wenn Sie nur die Kraft haben, das zu tun, zum Beispiel durch das Schulzimmer zu gehen und ganz in sich lebendig machen dieses Zusammenhalten mit dem Toten, so gibt es Ihnen eine Kraft, die Kinder für Ermahnungen zugänglich zu machen. So werden Sie auch für dasjenige, was für die Taufe zu erlangen ist - die Taufe ist hier herausgehoben, weil sie ja den Menschen in die christliche Gemeinschaft hineinführen will -, eine besondere Kraft in den Ritus hineinbekommen, wenn Sie die Kraft durch die Toten hineinbekommen.

Es ist natürlich, daß das angeführt wird von dem Begründer des Christentums, aus dem Grunde, weil ja die ganze Christenheit, also auch die tote Christenheit, in der Fortsetzung des Christentums wirken soll, so daß alle die, die durch den Tod hinausgegangen sind aus der Welt, Mithelfer sein sollen, um in der richtigen Weise diejenigen, die geboren werden, hineinzuführen in die christliche Gemeinschaft. Das ist das, worin ich das zusammenfassen möchte.

Ein Teilnehmer: [Wovon sind die Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten abhängig?]

Rudolf Steiner: Ja, nach den Erfahrungen, die man machen kann, ist es so, daß die realsten Beziehungen sich dann herausstellen, wenn sie sich aufbauen auf reale Beziehungen im Leben vor dem Tode.

Es ist im allgemeinen, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Sterben so: Wenn der einzelne Mensch stirbt, tritt er aus seiner leiblichen Hülle heraus, und was er in der leiblichen Hülle erlebt hat, verhält sich vielfach wie die Ursache zu dem, was er dann [als Wirkung nach dem Tode] erlebt. Das ist nun einmal so: Nach dem Tode ist er abhängig von dem, was er in der leiblichen Hülle erlebt hat. Was er durch die leibliche Hülle erleben kann, fällt ab, er bekommt andere Perzeptionsfähigkeiten, aber er schlüpft gewissermaßen aus der Hülle heraus.

So ist es auch mit den Verhältnissen, die der

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Mensch im Leben zu anderen Menschen eingegangen ist; diese Beziehungen haben sich herausgebildet, sie sind vermittelt durch unser physisches Dasein hier, aber wenn wir aus der Hülle herausschlüpfen, setzen die Beziehungen sich fort. Wenn man auf diesem Gebiete Erfahrungen machen kann, muß man wirklich sagen: Je konkreter die Beziehungen im Leben waren, desto konkreter sind die Beziehungen auch zu dem Toten.

Es kommt aber noch etwas anderes in Betracht. Vor allen Dingen kommt dann in Betracht, daß ja auch wiederum Beziehungen ange­knüpft werden zwischen dem Tode und einer neuen Geburt selber. Also der Mensch bekommt dann neue Perzeptionen, aber er knüpft seelische Beziehungen an, so daß, wenn der Mensch wiederum aus dem präexistenten Leben mit Menschenbeziehungen herunter­kommt - und tatsächlich sind unsere realen Menschenbeziehungen viel größer als wir eigentlich glauben -, man nicht sagen kann, daß das allgemeine Verhältnis, das entwickelt wird durch solche Dinge, wie Sie sie im Auge haben, ganz fruchtlos wäre.

Es ist schon so, daß zum Beispiel die Leute einer kirchlichen Gemeinschaft eben Beziehungen auch für das nachtodliche Leben knüpfen, aber die anderen Dinge sind durchaus nicht fruchtlos, das kann man schon sagen - solche Dinge lassen sich wirklich nur aus der Erfahrung heraus feststellen -, aber das Konkrete spielt eben eine viel größere Rolle.

Johannes Perthel: Darf in der Gegenwart oder in der unmittelbaren Zukunft damit gerechnet werden, daß in dem Proletariat eine religiöse Bewegung, auch in bezug auf den Kultus, von dem die Rede ist, möglich ist?

Ein Teilnehmer: Wie steht es mit dem Unterschied von Stadt und Land?

Rudolf Steiner: In dieser Beziehung haben wir ja eine gewisse Erfahrung gemacht. Nicht wahr, es war mir notwendig, im April 1919 einem Rufe nach Stuttgart zu folgen und dort in Deutschland für die Dreigliederungsbewegung einzutreten, so wie sich mir die An­schauung von der Dreigliederung des sozialen Organismus ergeben hat aus den durch die Geisteswissenschaft zu pflegenden Erfah­rungsgrundlagen. Ich mußte das absolut für etwas halten, was eine

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Aufgabe gerade dieses Zeitpunktes war.

Bevor ich hinausgefahren bin aus der Schweiz, kam hier ein Mann zu mir, der den von mir verfaßten Aufruf unterschreiben wollte, und sagte, ich müsse ihm doch mehr sagen als in dem Aufruf stünde. Die «Kernpunkte» waren damals noch nicht erschienen. Er meinte, es müsse sich doch so etwas ergeben, daß man etwa auf die zweite deutsche Revolution rechnen könnte.

Ich fragte ihn: Rechnen Sie also auf die zweite deutsche Revolution? - Er zählte die vom November 1918 als die erste. Und so wie in Rußland eine Revolution auf die andere gefolgt ist, so rechnete er mit einer zweiten Revolution und meinte, ich würde die Anschauung haben, daß die Dreigliederung da hineinfallen müßte. Ich sagte ihm dazumal: Ja, es glaubt eine große Anzahl von Leuten daran, daß die Dreigliederung in der Tat unbedingt auch eine schnelle Wirkung haben werde nach dem ganzen Gang der Zeitereignisse. Das muß eben einfach probiert werden. Denn würde ich sagen, sie kann keine schnelle Wirkung haben, so würde sie unterbleiben, und dann wird man keinem Menschen beweisen können, daß, wenn man sie gehabt hätte, eine sehr gute Wirkung zum Heile der ganzen Menschheit herausgekommen wäre. Ich sagte ihm: Geradeso wie man in einem gewöhnlichen Zusammenhang etwas übersehen kann, so kann einem auch auf geistigem Felde manches entgehen. Es können Faktoren da sein, die eine zweite deutsche Revolution aussichtsvoll machen, aber ich glaube überhaupt nicht an eine akute zweite Revolution, sondern an eine Kontinuität, was unmöglich machen würde, daß man mit einer zweiten Revolution als mit einem ernsten Faktor rechnen könne. Ich glaube nicht daran, daß für solche Dinge ein wirklicher Boden vorhanden ist.

Nun, die Entwickelung der Jahre hat dieser Anschauung auch recht gegeben, und der Erfolg war dann der, daß man zunächst verhältnismäßig rasch mit der Dreigliederung vorwärtsgekommen ist. Dann stockte es, es ergaben sich die Hemmungen von den ver­schiedensten Seiten, die ich Ihnen jetzt nicht auseinandersetzen will. Dagegen ist gerade durch die Dreigliederungsbewegung eine gewisse Verbindung mit dem Proletariat geschaffen worden, und diese Verbindung hat ins Proletariat Antroposophie hineingetragen, wie sie

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sonst nicht hineingetragen worden wäre. Ich möchte sagen, die Anthroposophie ist geblieben, die Dreigliederung ist am Proletariat vorbeigegangen. Es hat sich gezeigt, daß ein sehr starkes Interesse vorhanden ist im städtischen Proletariat, diese Dinge kennenzulernen.

Eine andere Sache habe ich Ihnen auch schon angeführt. Wenn wir nicht in der Lage gewesen wären, in der Waldorfschule einen anthroposophischen Religionsunterricht zu geben, der immer im Einklang mit der Elterngesinnung gegeben wird, niemals gegen sie, wäre die weitaus größte Zahl [der Kinder] ohne Religionsunterricht geblieben. Bei dem anthroposophischen Religionsunterricht ist es so, daß die Lehrer sagen: Wir kommen nicht nach, wir sind nicht in der Lage, eine genügende Anzahl von Lehrern zu haben [für den Religionsunterricht]. Es könnte sogar etwas boshaft aussehen, wenn ich sagen würde, daß die anderen Religionslehrer manchesmal sehr mißmutig äußern: Ja, wenn die das so fortmachen, laufen uns alle Kinder davon. - Aber wir können nichts dafür, die Schuld muß schon auf irgendeiner Seite liegen, ich will nicht sagen, wo sie liegt, aber ich glaube, auf einer anderen Seite liegt sie. So sehen Sie wie­derum, daß tatsächlich ein starker Zug gerade nach der Richtung vorhanden ist, die durch das Anthroposophische in die Welt hinein­kommen kann.

Um die Stadtbevölkerung ist es mir also gar nicht bange. Von der Stadtbevölkerung glaube ich, daß die Gemeinden, die Sie werden gründen können, tatsächlich großen Zuzug haben werden gerade aus dem Proletariat. Das zeigt die Erfahrung durchaus, auch die ganze Konstitution der Proletarierseele zeigt es heute, wie man das in der letzten Zeit durchlebt hat. Es ist wirklich so, daß das Proleta­riat heute etwas anderes ist, als es im Jahre 1914 gewesen ist. Es ist, wenn man es in der richtigen Weise packt, sehr zugänglich für eine religiöse Vertiefung, es lechzt geradezu danach.

Schwieriger steht die Sache allerdings mit der Landbevölkerung, aber mit der Landbevölkerung steht es schwieriger auf allen Gebie­ten. Die Landbevölkerung ist sehr hartnäckig, sehr konservativ und wird tatsächlich kaum auf einem anderen Wege zu gewinnen sein für eine vernünftige Weiterentwickelung als dadurch, daß die, die

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ihre Führer sind, nach und nach vernünftig werden, was ja bei gewissen Seiten furchtbare Schwierigkeiten macht.

Man muß heute eigentlich sagen, mit den Geführten ließe es sich - ich meine, als allgemeine Erscheinung - verhältnismäßig leicht vorwärtskommen, wenn nur die Führer anbeißen wollten, aber diese sind so furchtbar bequem. In bezug auf die Landbevölkerung müßten eben die Führer anbeißen, wir müßten die Möglichkeit haben, daß die Führer ihre Bequemlichkeit überwinden. Dann allerdings wäre auch die Frage der Landbevölkerung gelöst, denn die löst sich schnell, wenn sie dort als Pfarrerfrage gelöst ist. In den Städten werden die Pfarrer gezwungen sein, fortschrittlich zu sein, weil die Kirchen leer bleiben nach und nach. Auf dem Lande handelt es sich darum, daß die Führer gewonnen werden.

Nun, meine lieben Freunde, ich kann mich jetzt angesichts unserer Situation hier schwer in die Sache hineinmischen, denn da handelt es sich darum, wie schnell es möglich sein wird, daß diejenigen, die nun tatsächlich, ich will nicht sagen für ein hastiges, aber für ein tatkräftiges, im realen Sinn gedachtes Vorgehen sind, also werdende Seelsorger, überhaupt in der Lage sind, sich in ihrem Sinn die Führung zu gestalten. Das ist das, was man etwa dazu sagen muß. Geht Ihre Frage noch nach einer anderen Richtung?

Ein Teilnehmer: Ich möchte fragen, ob damit zu rechnen ist, daß diese neuen Kultformen Anklang finden unmittelbar beim Proletariat?

Rudolf Steiner: Das ist ganz sicher. Nur, nicht wahr, handelt es sich darum, daß man weiß, wie man das Proletariat zu behandeln hat. Natürlich - das geht auch aus dem ersten Kapitel meiner «Kernpunkte» hervor -, die Eigenschaften, die heute seelisch sich ausgebildet haben beim Proletariat, sind ja im wesentlichen die Erbstücke der Bourgeois-Eigenschaften der letzten Jahrhunderte. Der Proletarier zeigt heute keine anderen Eigenschaften als die, die er vom Bourgeois geerbt hat. Wenn der Bourgeois pedantisch geworden ist, ist der Proletarier noch pedantischer geworden, wenn der Bourgeois philiströs geworden ist, ist der Proletarier noch philiströser geworden,

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wenn der Bourgeois materialistisch geworden ist, ist der Proletarier noch materialistischer geworden und so weiter.

Was Sie heute beim Proletariat finden an Abneigung gegen Rituelles, Zeremonielles, ist nichts anderes als die Fortsetzung jener Abneigung, die sich im Bourgeoistum nach und nach entwickelt hat. Es handelt sich auch darum, daß wir da wirklich von dem Äußeren an das Innere appellieren können, und da muß man sagen: Wer etwas tiefer in den Gang der Menschheitsentwickelung hineinsieht, der weiß, daß, so wie die soziale Frage heute liegt, sie nicht überwunden werden kann durch etwas anderes als eine ernsthafte religiöse Erneuerung, und die kann nur durch das Zeremonielle eigentlich gefunden werden. Sie kommen sogar gar nicht dazu, dasjenige, was Sie in die Proletarierseele hineinbekommen müssen, zu entwickeln, ohne daß das Zeremonielle auftritt.

Aber das Zeremonielle muß ehrlich sein. Hier spielen Imponderabilien eine große Rolle. Wenn das Zeremonielle eben nicht ehrlich ist, so ist es unmöglich, es zur Geltung zu bringen. Wenn es ehrlich ist, nimmt es schon an sich den Weg. Ich möchte sagen, es ist nicht nötig, daß man gleich mit der Tür ins Haus fällt, aber ehrlich muß das Zeremonielle sein.

Sehen Sie, nach dieser Richtung hin muß man sagen: Es sind ja nach und nach die zeremoniellen Handlungen so veräußerlicht wor­den, daß natürlich der Proletarier heute nur ein Lächeln hat für alles Zeremonielle. Aber lassen Sie wiederum etwas kommen, was ehrlich ist, was das ist, was es sein soll, dann kommen Sie an den Menschen heran, auch an die Proletarierseele, vielleicht sogar an diese zu allererst.

Hubert Sondermann: Dürfte ich fragen, von welcher Seite man an die Seele des Landmannes das, was wir wollen, herantragen könnte und wo sozusagen der Schlüssel zu finden ist, wo man da aufschließen kann.

Rudolf Steiner: Das ist unmöglich theoretisch zu machen, sondern es ist eben so zu nehmen, wie ich es gesagt habe. Man muß sich da klar sein darüber, daß der Landmann, der Bauer konservativ ist, und daß das, was starr in ihm ist, außerordentlich schwer aus ihm her­auszubringen ist, und das ist heute viel häufiger als es ehemals war.


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Ich glaube, das ist in verhältnismäßig kurzer Zeit schon wahrzunehmen. Es war noch verhältnismäßig leicht in den Achtzigerjahren, Leute aus dem römischen Katholizismus zur altkatholischen Kirche herüberzubringen. Heute ist fast gar nicht daran zu denken.

Constantin Neuhaus: Die guten Elemente kommen gar nicht mehr.

Rudolf Steiner: Die allgemeine Wirkung ist die, daß eigentlich die Empfänglichkeit in verhältnismäßig kurzer Zeit verlorengegangen ist, gerade auf dem Lande im eminentesten Maße. Auf dem Lande kann es überhaupt nur dadurch besser werden, daß wir auf dem Umweg durch die Priesterschaft wirken.

Wenn wir in der Lage sind, auf dem Lande eine Gemeinde zu gründen, auch wenn sie noch klein ist, wenn diese Gemeinde da ist und der Priester nun wirklich priesterlich wirkt, so kann er schon nach und nach diese Gemeinde haben, aber er muß sich natürlich darauf gefaßt machen, daß es sich eigentlich darum handelt, da die Führer zu überwinden. Sie können natürlich mit den Arlesheimern nichts anfangen, solange der Pfarrer Kully da ist. Es ist klar, daß es sich hier um die Führer handelt. Der Weg, der überhaupt eingeschlagen werden kann, wird der sein, zunächst Gemeinden in größeren Orten zu gründen und dann zu versuchen, einfach überzeugend auf die Leute zu wirken, so daß durch den Seelsorger selber eine Art Weiterentwickelung stattfindet. In dem Augenblick, wo es Ihnen gelingt, irgendeinen Bezirk zu erobern als Führer, wird es dann schon kommen. Man muß da immer sehen, daß es auf einzelne Seelen nicht ankommt, bei den kompakten Landgemeinden schon gar nicht mehr. Versuche müssen aber überall gemacht werden, es wird sich überall darum handeln, daß dort die Führer überwunden werden.

Ein Teilnehmer: Ich glaube, wir werden Schwierigkeiten haben, da auf dem Lande das religiöse Leben viel weniger bewußt lebt. Ich glaube nicht, daß auf dem Lande viele Menschen wirklich suchen, sondern die Religiosität ist mehr eine traditionelle, sie ist eine Bewegung, die von selber vor sich geht. Einem Menschen, der stark sucht, kann man viel mehr erwas zumuten als Leuten, die nur infolge der Tradition im religiösen Leben stehen. Kann hier auf Erfolg

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gehofft werden, daß das religiöse Leben auf dem Lande aus der Sphäre des Traditionshaften in die Sphäre des Bewußtseins heraufgehoben werden kann, oder ist das nicht etwas zuviel zugemutet?

Rudolf Steiner: Ich bitte doch zu berücksichtigen, daß das, was Sie schildern, nur eine Zeiterscheinung der Gegenwart ist. Man erinnere sich nur an die Zeit der Bauernbewegungen, die einen durchaus religiösen Charakter hatten.

Die Erscheinung, die Sie schildern, hängt im wesentlichen eigentlich viel mehr zusammen mit anderen Dingen in der Gegenwart als bloß mit religiösen Dingen. Nicht wahr, wenn Sie in Regensburg Anthroposophie vortragen wollen und gerade bäuerliche Bevölkerung drinnen ist, dann kommen die natürlich und stampfen auf die Erde: Du hast uns hier gar nichts zu sagen, das hat uns unser Pfarrer zu sagen, und du hast hier das Maul zu halten!

Das hängt aber damit zusammen, daß heute ein ungeheuerer Autoritätsglaube, nicht nur auf religiösem Gebiet, sondern überall sich ergeben hat infolge des Liberalismus, der Entwickelung des Menschen zur Freiheit hin. Wir haben ja den Autoritätsglauben besonders dadurch bekommen, daß wir immer liberalere und liberalere Menschen geworden sind. Dadurch, daß der Liberalismus verbreitet worden ist, haben wir ja unsere Freiheit eingebüßt. Das ist etwas radikal gesprochen, aber es erweist sich das schon auf den verschiedensten Gebieten. Viel mehr als mit religiösen Dingen hängt das zusammen mit den Dingen, die sonst im allgemeinen im Leben da sind.

Versuchen Sie nur einmal sich auszumalen, was eintreten würde, wenn ein wirklich freies Geistesleben Platz greifen würde. Ein freies Geistesleben, wo zum Beispiel die Schule ganz autonom auf sich selber gestellt ist, wo in der Schule dasjenige getrieben wird, was, ich möchte sagen, unmittelbare Offenbarung aus dem Geist heraus ist, da kommen Sie natürlich schon auf dem Wege des freien Geisteslebens dazu, die führenden Persönlichkeiten mit ihren Autoritäten zu überwinden. Das ist also etwas, was durchaus in Dingen, die sich auf anderen Gebieten entwickeln als auf dem Gebiete des Religiösen, gerade am Lande am stärksten hervortritt, weil auf dem Lande sich nicht so leicht das Autoritätsprinzip auf allen Gebieten überwinden läßt wie in den Städten.

Aber ich möchte nicht sagen,

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daß deshalb gerade auf dem Lande das religiöse Leben unbewußt ist. Es ist eben so, daß alles starrer ist und daß es untertaucht in dasjenige, was die moderne Zeit heraufgebracht hat.

Ein Teilnehmer: [Ist nicht gerade die Landbevölkerung für Kultisches empfänglich?]

Rudolf Steiner: Ja, für Einführung des Kultus ganz gewiß. In dem Augenblick, wo Sie mit dem Kultus auftreten, werden Sie das Herz des Landmannes viel leichter gewinnen als mit einer Lehre, das ist ganz gewiß. Die katholische Kirche hat das Christentum zunächst weniger durch Lehre als durch den Kultus verbreitet, wenn auch die Lehre in äußere Formen hineingeflossen ist.

Ein Teilnehmer: Wo noch Reste des Kultus vorhanden sind, da ist die Stellung des Pfarrers eine andere Autoritätsstellung, und dem Pfarrer erleichtert das eher den Zugang in das Leben des Landvolkes. Mir bangt nur davor, ob der Pfarrer die nötige sachverständige Kenntnis hat, überall leitend einzugreifen.

Rudolf Steiner: Welcher Pfarrer?

Ein Teilnehmer: Der Pfarrer auf dem Lande. Wenn da alle Fäden zusammenlaufen, ob er das tatsächlich leisten kann?

Rudolf Steiner: Ja, aus welchem Grunde meinen Sie, daß es nicht sein kann?

Ein Teilnehmer: Weil wir durch unsere Erziehung zu weltfremd geworden sind.

Rudolf Steiner: Das wird ja allerdings durch ein freies Geistesleben, wie ich es mir denke im Sinne der Dreigliederung des sozialen Or­ganismus - also im Pädagogischen nach dem Muster der Waldorfschule durch die Erziehung im freien Geistesleben -, wesentlich überwunden. Nicht wahr, wir haben ja die schlimmsten Folgen eigentlich durch die Unfreiheit des Geisteslebens kommen sehen, also ich meine jetzt durch die soziale Unfreiheit.

Bedenken Sie doch nur,

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daß man wirklich ernsthaft darüber nachgedacht hat - es ist noch gar nicht lange her -, ob man im Deutschen Reich die Jesuiten dulden soll oder nicht. Nun, das ist etwas Ungeheuerliches, überhaupt vom politischen Gesichtspunkte aus eine Frage des Geisteslebens zu erörtern. Sie werden mir nicht zumuten, daß ich nur ein Härchen übrig habe zum Lobe für die Jesuiten selbstverständlich, aber es darf einfach politisch gar keine Art von geistiger Bewegung irgendwie bedrängt werden, wenn man im allgemeinen Geistesleben vorwärtskommen will.

Was haben sie denn erreicht dadurch, daß sie in Deutschland den Jesuitismus politisch bekämpft haben? In dem­selben Maße, in dem sie den Jesuitismus politisch bekämpften, in demselben Maße nahmen die Kapazitäten von anderer Seite zu. Der Jesuitismus ist sehr scharfsinnig, er hat außerordentlich bedeutende Menschen in sich wirken. Will man ihn bekämpfen, muß man auch scharfe geistige Eigenschaften entwickeln.

Ich muß sagen, jede Art von Bedrängung des freien Geisteslebens führt zu einer Bedrängung des Geisteslebens überhaupt. Wir sollten niemals daran denken, durch politische Maßnahmen unsere Gegner auf dem Gebiete des Geisteslebens zu binden, zu beschränken oder dergleichen; nur dadurch ist es möglich, da wirklich vorwärts zu kommen.

Ich meine, wenn das Geistesleben alle die Schattenseiten abstreift, die noch da sind, zum Beispiel den Spezialismus - der in der anthroposophischen Erziehung vollständig abgestreift werden kann -, dann wird tatsächlich der Pfarrer der Führer sein können, der er sein muß. Es geht einfach nicht anders in den Landgemeinden draußen. Für den Pfarrer gibt es keine andere Möglichkeit, als wirklich in allen Angelegenheiten, die die Gemeinde betreffen, gleich drinnen zu stehen - ich will auch noch über Gemeinschaftsbildung sprechen -, er muß es einfach. Man kann nicht sagen «er wird es», sondern man kann sagen: Er muß es. - Wir müssen mit Fichte aussprechen: Der Mensch kann, was er soll, und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht. - Das sollte als eine Devise vor uns stehen.

Christian Geyer: Ich möchte eine kleine Anregung geben. Leider muß ein Teil von uns fortgehen. Es war ursprünglich in Aussicht genommen, daß der Kurs

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bis zum morgigen Tage dauert, und manche können die Fortsetzung nicht mehr mitmachen. Ich weiß nicht, ob es unbescheiden ist, wenn ich bitten würde, vielleicht nur wenigstens skizzenhaft anzudeuten, wie sich das Glaubensbekenntnis gestalten wird.

Rudolf Steiner: Morgen. Jetzt ist es nicht mehr möglich, daß wir fortsetzen. Morgen, ja.