Ausgewählte Zyklen und Vorträge aus dem Gesamtwerk Rudolf Steiners

 

Rudolf Steiner (1861-1925):

GA 100 Theosophie und Rosenkreuzertum

10. Vortrag Kassel, 25. Juni 1907

Wiederholung von Saturn-, Sonne-, Mondzustand während der polarischen, hyperboräischen und atlantischen Zeit.
Beschaffenheit der Atlantier und ihrer natürlichen Umgebung.

Heute wollen wir die Umwandlung des alten Mondes in unsere Erde einmal in Betracht ziehen.

Vorher müssen wir aber noch hinweisen auf eine wichtige Erscheinung der Mondenentwicklung selber. Als diese ihrem Ende zuging, als also alles das mehr oder weniger sich abgespielt hatte, was ich gestern beschrieben habe, hat eine Wiedervereinigung des alten Mondes mit der Sonne selbst stattgefunden. Es fiel sozusagen dieser alte Mond wiederum in die Sonne zurück, so daß es jetzt wieder den einheitlichen Körper gab.

Dann ging dieser Körper wiederum über in eine Art Schlafzustand des Planetendaseins, und es trat neuerdings hervor die vierte Metamorphose; das war nicht etwa gleich dasjenige, was unsere Erde darstellt, sondern es bereitete sich erst langsam der Zustand unserer Erde vor. Wir können uns am besten bei unserer Erde über ein kosmisches Gesetz klarwerden: daß die späteren Zustände in einer gewissen Beziehung das wiederholen müssen, was vorher schon da war.

Bevor unsere Erde nach dem Aufwachen so recht unsere Erde werden konnte, mußte sie noch einmal kurz wiederholen den Zustand des Saturn, der Sonne und des Mondes. Allerdings verlief diese Entwicklung in einer etwas andern Weise als bei den drei Planeten selber.

Wir haben gehört, daß auf dem Saturn die erste Anlage vorhanden war zu den Sinnesapparaten, die wir in uns tragen. Bei der ersten Wiederholung waren diese Sinnesformationen schon so weit vorgeschritten, daß eine Art menschlicher Gestalt sich herausbildete; doch hatte bei dieser Metamorphose jener automatische Sinnesapparat noch keinen Ätherleib.

Bei der Wiederholung des Sonnenzustandes gliederte sich der Ätherleib ein,

und bei der dritten Umwandlung, der Wiederholung des Mondenzustandes, der Astralleib.

In der dritten Phase haben wir wiederum Sonne und Mond getrennt im Weltenraume schwebend. Die Wesen waren etwas höher entwickelt, weil sie immer mehr der Vorbereitung dessen entgegengingen, was sie auf der Erde durchmachen sollten. Zu den drei Leibern, welche die Tiermenschheit auf dem Monde hatte, gesellte sich das vierte Glied hinzu, das Ich. Das ging aber nicht

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so schnell vonstatten.

Es war so, daß diese Glieder gleichsam warteten auf die Aufnahme eines Ich.

Was wir schon haben verfolgen können, war ein Heraustrennen von Sonne und Mond. Dann haben wir es zu tun da, wo es schon nahe unserer eigenen Entwicklung zugeht, mit einer Auseinanderspaltung von Mond und Erde.

Aus dem alten Mond werden zwei Körper: der eine, der aus dem schlechtesten Material bestand, das an Wesenheiten und Substanzen vorhanden war, wurde hinausgeworfen in den Weltenraum; der andere ist unsere heutige Erde. Was die Wesen gehindert hätte, eine weitere Entwicklung durchzumachen, mußte ausgeschieden werden, und das bildete den heutigen Mond. Erst dann war die Erde als ein selbständiger Weltenkörper da. Wir stehen hiermit vor gewaltigen kosmischen Ereignissen: die Trennung der Sonne von Erde plus Mond; und dann wiederum die Trennung der Erde vom Mond. Diese zwei Ereignisse bereiteten unsere gegenwärtige Entwicklung vor.

Ich habe Sie bis zu dem Punkte geführt, wo unsere Erde eine selbständige Kugel wurde. Ich möchte Sie jetzt von einer andern Seite her zu diesem Punkte führen, damit Sie genau orientiert sind, wo dieser Punkt für unsere Erde liegt.


Gehen wir jetzt einmal von der unmittelbaren Gegenwart in die Vergangenheit zurück; gehen wir also zunächst aus von der Gestalt der Erde, die Sie alle kennen. Selbst die Naturwissenschaft weist hin auf beträchtliche Unterschiede zwischen dem früheren und dem heutigen Aussehen der Erde. Es beruht zwar alles auf Hypothese, aber wir können erfreut sein, daß sich heute schon die Naturwissenschaft mit der Geisteswissenschaft etwas darin begegnet.

Die Naturwissenschaft sagt: In den Gegenden, wo wir heute leben, waren riesige Urwälder mit einem Klima, wie es heute am Äquator herrscht; mächtige Tiere waren da anzutreffen. Ganz anders hatte das Antlitz der Erde ausgesehen

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nach dem, was die Naturwissenschaft heute sagt. Nach dem Tropenklima, das damals herrschte, vor dem heutigen gemäßigten, war die Glazial- oder Eiszeit, und so weiter. Das sind Dinge, die Sie in jedem Geologiebuch bereits finden können.

Ich erzähle das, um Sie darauf hinzuweisen, wie wir uns durchaus vergegenwärtigen müssen, daß sich das Antlitz der Erde in gewissen Zeiträumen mächtig ändert und ganz anders aussieht. Die Naturwissenschaft, die nur den kombinierenden Verstand, ihre Apparate und so weiter zur Verfügung hat, kann nur auf eine Reihe von Jahrtausenden auf das äußerliche Aussehen unserer Erde zurückblicken. Wenn aber der Seher zurückschaut, muß er es zwar in einer etwas andern Weise schildern, aber es wird schon jene Harmonie zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft einmal kommen. Die Naturwissenschaft weist uns schon heute auf die Tatsache hin, die der Seher mit Entschiedenheit behaupten muß: daß das Antlitz der Erde sich nicht nur verändert hat in bezug auf Pflanzen und so weiter, sondern daß ganz andere Gebiete unserer Erde von Land oder Meer bedeckt sind, als es heute der Fall ist. So hat Huxley darauf aufmerksam gemacht, daß ein ganzer Teil von Großbritannien bereits viermal unter Wasser gestanden hat. Dementsprechend sieht das Antlitz unserer Erde immer wieder ganz anders aus.

Sie finden zum Beispiel im «Kosmos», Heft 10, eine Abhandlung über die sogenannte alte Atlantis, wo ein Gelehrter, der ganz auf dem Boden der Naturwissenschaft steht, aus der Konfiguration des Pflanzen- und Tierreiches in Europa und Amerika nachweist, daß, was heute Atlantischer Ozean ist, früher Land gewesen sein muß, und daß in jenen Zeiten große Teile von Afrika nicht Land, sondern Meer gewesen sein müssen. Dafür aber bestand im Westen von uns das Land Atlantis, das sich zwischen Europa und Amerika ausbreitete.

Der Gelehrte kommt zwar nur dazu, von einer Pflanzen- und Tierwelt zu sprechen, aber das ist ja auch ganz natürlich. Selbst wenn Überreste da sein sollten von jenen alten Menschen, unseren Vorfahren - sie müssen sich auf dem Boden des Atlantischen Ozeans finden lassen -, so kann man ja heute noch nicht den Meeresboden so weit durchforschen. Der Geistesforscher sieht zurück bis in der Zeiten Wende und weiß, daß wirklich dazumal die alte Atlantis, von der sogar Plato noch berichtet,

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vorhanden war. Es war im wesentlichen die ganze Fläche, die heute Ozean ist, die alte Atlantis, und da wohnten die physischen Vorfahren des heutigen Menschengeschlechts.

Allerdings sahen sie ziemlich anders aus, als es sich die heutige Naturwissenschaft vorstellt. Doch dürfen wir sie keineswegs vergleichen mit dem heutigen Affengeschlecht; die Atlantier waren seelisch und auch körperlich sehr verschieden von dem heutigen Menschen, aber Affen waren sie nicht. Das Affengeschlecht gab es damals noch nicht, das ist erst zu einer späteren Zeit entstanden, und nicht anders als auf die Weise, daß gewisse Menschenformen in der damaligen Zeit zurückgeblieben sind auf der damaligen Entwicklungsstufe, und dann heruntergesunken sind auf eine noch niedrigere Stufe.

Der Darwinismus macht nämlich einen Fehler, der aber sehr einfach einzusehen ist. Wenn jemand zwei Leute sieht, von denen er hört, sie seien verwandt, der eine sei ein unvollkommener Mensch, während der andere, der seine Fähigkeiten gut angewendet hat, ein vorzüglicher Mensch ist, wird er nicht sagen: blutsverwandt sind sie, also stammt der vollkommene Mensch von dem unvollkommenen ab. - So aber ist die Schlußfolgerung der Darwinisten.

Es stehen jedoch der Vollkommene und der Unvollkommene nebeneinander: nur hat sich der eine hinaufentwickelt, indem er seine Fähigkeiten gut angewendet hat, der andere hat sie heruntergetrieben, ist in Dekadenz geraten. So auch stehen sich die von den Menschen abgezweigten Affen und die Menschen selbst gegenüber. Der Affe, der dem Menschen begegnet, erscheint ihm wie eine Karikatur eines Menschen, nicht wie ein Mensch.

So war zur Zeit der Atlantis ein ganz anderer Menschenschlag vorhanden, dieser hat sich höher entwickelt. Gewisse Wesen blieben dabei zurück. Und weil die Erde sich verändert, so blieben auch sie nicht auf jener Stufe stehen, sondern sie kamen herunter, verkümmerten und wurden zu der Karikatur des Menschen, zu dem Affengeschlecht. So sind die niederen Wesen verkommene höhere, die in Dekadenz geraten sind.

Wenn wir den Menschen der Atlantis selbst betrachten, werden wir uns am besten klar, wie er lebte, wenn wir auf seine seelischen Eigenschaften eingehen. Was der heutige Mensch kann - logisch denken, rechnen und so weiter -, ist alles später entstanden. Logik, Urteilsvermögen, das alles

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war dem Atlantier noch völlig fremd.

Dafür hatte der Atlantier eine Eigenschaft der Seele, die heute beträchtlich zurückgegangen ist, nämlich ein schier unbegreifliches Gedächtnis. So rechnen, daß er nach der Regel gelernt hätte: zwei mal zwei ist vier, und aus seinem Urteil heraus diese Rechnung immer wieder vollzogen hätte, das gab es nicht. Aber er konnte sich das, was es gibt, wenn man zwei mal zwei zusammenlegt, merken und sich immer wieder daran erinnern. Das hängt nun zusammen mit einer völlig andern physischen Beschaffenheit jenes alten Kontinentes selber.

Wenn Sie sich diesen Kontinent seiner physischen Beschaffenheit nach vorstellen wollen, bekommen Sie am besten ein Bild davon, wenn Sie an ein Gebirgstal denken, das von dichten Wasserdämpfen und Nebelmassen angefüllt ist. Es gab für den Atlantier niemals eine wasserfreie Luft. Die Luft war immer geschwängert mit Wasser. Die alten Atlantier haben sich die Erinnerung daran erhalten, als sie nach Europa herüberkamen; daher nennen sie das Land, in welchem die Vorfahren lebten, Niflheim.

Erst gegen das Ende des letzten Drittels der atlantischen Zeit fingen die Menschen an, gewahr zu werden, daß sie ein Ich sind. Die Anlage dazu war schon längst vorhanden und ein gewisses Gefühl davon auch. Aber klar und deutlich aussprechen: Ich bin ein Ich -, das lernte man erst im letzten Drittel der atlantischen Zeit.

Dies hängt zusammen mit dem Verhältnis des Ätherleibes zum physischen Leibe. Wenn Sie diese beiden Leiber betrachten, sehen Sie, daß sie sich ungefähr decken, nur ragt der Ätherleib etwas über den physischen Leib hinaus. Es gibt nun zwischen den Augenbrauen eine Stelle, die ein Mittelpunkt für gewisse Kräfte und Strömungen des Ätherleibes ist. Zu ihm gehört nun hinzu ein ganz bestimmter Punkt im physischen Gehirn. Beide müssen sich decken, und darauf beruht die Fähigkeit, sich als ein Ich zu empfinden; darauf beruht auch die Fähigkeit, zu rechnen, kombinieren zu können und so weiter.

Bei den Idioten zum Beispiel ist die Berührung dieser Punkte im Kopf nicht vorhanden, da decken sie sich nicht. In dem Augenblick, wo sie auseinanderfallen, ist die Urteilskraft des Menschen nicht mehr ordentlich vorhanden. Bei dem Atlantier war es noch das Normale, daß diese beiden Punkte auseinanderlagen. So ist es heute noch bei den Tieren; wenn Sie den Pferdekopf ansehen, finden Sie beide Punkte noch weit

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auseinanderliegend. Bei dem Atlantier ragte der Ätherkopf hervor, und der physische Kopf hatte eine zurückliegende Stirn.

Dafür aber hatte der Atlantier noch etwas anderes, das allerdings mit der Eingliederung des physischen Leibes in den Ätherleib wieder verlorenging. Er hatte noch ein altes, dumpfes Hellsehen entwickelt, während er wirklich nicht bis fünf zählen konnte. Alles Urteilen, das er hatte, kam ihm aus seinem Erinnerungsvermögen an unglaublich ferne Zeiten. Und jenes alte Hellsehen stellte sich dar als eine gewisse Steigerung unseres gegenwärtigen Traumlebens. Denken Sie sich dieses Traumleben aufs höchste gesteigert, dann würden Sie zu dem Anschauungsvermögen, zu dem alten dumpfen, traumhaften Hellsehen des Atlantiers aufsteigen.

Wenn der Atlantier durch das Land ging, sah er zwar schon den Menschen innerhalb seiner physischen Grenzen, so ungefähr wie wir ihn heute sehen, aber das war in gewisser Beziehung noch nebelhaft verschwommen; er sah aber noch etwas anderes. Wenn Sie heute einem Menschen begegnen, sehen Sie nichts Besonderes von seinem Innenwesen, nur was seine Miene ausdrückt: ist seine Miene finster, so schließen Sie auf sein Traurigsein und können daraus etwas von seiner Seele erraten. Wenn aber der Atlantier einem Menschen begegnete, der etwas Arges gegen ihn im Sinne hatte, tauchte ihm zum Beispiel eine braunrote Vision auf; wenn jener ihn liebte, eine bläulichrote Vision. Eine Art Farbenvision stimmte mit dem Seelenzustand des andern überein; man sah noch etwas von dem, was im Inneren des Menschen sich zutrug. Wenn der Atlantier ging und es tauchte vor ihm ein fürchterlich rotbrauner Nebel auf, so lief er davon, denn er wußte: da kommt - es war vielleicht noch meilenweit weg - ganz bestimmt ein gefährliches Tier, das mich fressen will.


Sogar eine physische Grundlage hatte das alte atlantische Hellsehen. Der Mensch betrachtete nämlich nur die nächsten Blutsverwandten als zu sich gehörig, aber in einem viel höheren Maße, als das später der Fall war; nur ganz kleine Gemeinden, die kaum über den Familienkreis hinausgingen. Und es war die Hauptsache, daß man innerhalb dieser kleinen Blutsverwandtschaften heiratete.

Dieses Heiraten innerhalb der engsten Blutsbrüderschaft ergab eine solche Blutmischung, daß der Ätherleib für das Geistige empfänglich bleiben konnte. Hätte es der

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Atlantier versucht, aus dieser Blutsverwandtschaft herauszuheiraten, so würde die Hellseherfähigkeit unterdrückt worden sein; er wäre im astralen Sinne ein Idiot geworden. In den Blutsbrüderschaften zu bleiben war etwas, das Sittlichkeit, Moralität war.

Bevor man sein einzelnes Ich recht erfühlte, sagte man überhaupt zu der ganzen Blutsbrüderschaft: Das bin Ich. - Wie der einzelne Finger an der Hand, so betrachtete sich der einzelne Mensch zugehörig zur Blutsverwandtschaft. Hierauf beruht aber noch etwas anderes. Der Atlantier erinnerte sich nicht nur an das, was er selbst erlebte, sondern auch an das, was sein Vater, Großvater, Urgroßvater und so weiter bis weit in die Generationen hinauf erlebt hatten, bis hin zum Begründer der Familie. Alles, was von dort herstammend fortlebte, wurde als eine Einheit empfunden. Das wird Ihnen zeigen, wie enorm das Gedächtnis des Atlantiers entwickelt war. Alles beruhte auf dem Gedächtnis. Wir werden später hören, wie der Menschheit das Gedächtnis gerade durch das Durchbrechen der nahen Ehe verlorenging.


Zu einer solchen Seele braucht es notwendig eine ganz andere physische Natur, ist auch eine andere Umgebung notwendig, wie jenes alte Niflheim, an das sich die alten Germanen erinnern. Keineswegs beruhen Sagen und Mythen auf dem, was man Volksdichtung oder Volksphantasie nennt. Woher diese Sagen kommen, können Sie jetzt sehen. Bei den Atlantiern gab es noch ein altes, dumpfes Hellsehen; dort haben sich diese Begebenheiten wirklich abgespielt, die später wieder erzählt wurden und sich erhalten haben, wenn auch vielfach verkümmert, in den Sagen und Mythen der Völker.

Das Herüberwandern der Atlantier nach Osten hat sich in wunderbarer Weise in einem Sagenkreis Europas erhalten. Auf dem Kontinent der alten Atlantis konnte der Mensch nicht «Ich» zu seiner einzelnen Persönlichkeit sagen. Daher gab es dort auch nicht jenen Egoismus, der später die Grundlage der sozialen Ordnung gebildet hat. Dem Atlantier gehörte noch das, was die ganze Blutsverwandtschaft besaß, und er fühlte sich nur als ein Glied innerhalb dieser Blutsverwandtschaft.

Dann begann die Wanderung nach dem Osten. Immer mehr trat das Ich-Bewußtsein im Menschen hervor und damit die Selbstsucht. Der Mensch lebte vorher viel mehr in der Außenwelt als im Innern; es

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gehörte die Natur noch zu ihm. Wie in der Natur darinnen, ihr zugehörig, fühlte sich der Mensch. Nun, mit dem Erlangen des Ich-Bewußtseins, wurde es immer enger und enger um ihn, immer mehr scheidet er sich heraus, immer fremder wird er da, und immer stärker tritt das Ich hervor. Das war zu gleicher Zeit verknüpft mit einem Naturvorgang.

Wenn der alte Atlantier hinaufsah zum Himmel, konnte er die Sonne so nicht sehen, wie wir sie sehen; dichte Nebelmassen füllten die Luft an. Einen mächtigen Hof mit Regenbogenfarben erblickte er, wenn er auf die Sonne oder den Mond schaute. Dann kam die Zeit, wo der Atlantier die Sonne und den Mond als solche sah.

Eine Erscheinung aber kannte der Atlantier überhaupt noch nicht: das war der Regenbogen selbst. Erst als die Wasser der Atlantis die Luft verließen, als eine Verteilung von Regen und Sonnenschein sich bildete wie heute, lernte man die Tatsache des Regenbogens kennen. In jener wassergeschwängerten Atmosphäre gab es keinen Regenbogen. Nun erinnern Sie sich, daß die alte atlantische Flut große Länderstrecken freigelegt hat; dieses Freiwerden großer Strecken ist in großartiger Weise in der Sage und besonders in der Bibel erhalten. Denken Sie nur an die tiefe Wahrheit, die in der Bibel enthalten ist, wenn Sie lesen: «Und Noah sah, als die Wasser abgezogen waren, den Regenbogen.»

Mit dem Reinwerden der Luft von den alten atlantischen Nebeln war erst die Sonne in ihrer freien heutigen Gestalt für den Menschen hervorgetreten. Das ging parallel mit dem Einengen, dem Zusammenschnüren des Menschen zu seiner Selbstheit, seiner Ichheit.

Aus Gründen, die tief liegen, bezeichnet man in der Geistesweisheit das den Raum durchflutende Licht als das ätherische Gold, und das Gold sieht man an als das dicht gewordene Sonnenlicht. Die alten Atlantier wußten von ihren atlantischen Lehrern, daß das Sonnenlicht und das Gold etwas miteinander zu tun haben, und dies war das Bild, das sie empfingen: Das Sonnenlicht, das Sonnengold kommt heraus! Es umkleidet euch mit dem Ring, der das Selbst herauslöst, der bewirkt, daß ihr euch nicht mehr selbstlos in der Natur fühlt. - Bei den Atlantiern war das Selbst noch in den Nebelwolken verstreut; jetzt legt es sich wie ein Ring um den Menschen herum.

Die Nebel der Atlantis verlassen die Luft, werden heruntergedrückt und erscheinen als die Flüsse im Westen. Der Rhein selbst ist

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für den atlantischen Nachfahren nichts anderes als die Nebelmassen, die gesunken sind und nun herunterrinnen. In dem Rhein sieht er die Wassermassen, die noch durchdrungen waren vom Sonnenlicht; das Sonnengold ahnte er im Rhein, das Sonnengold, das in selbstloser, ursprünglicher Weise in der alten Atlantis gewirkt hat. Das war ihm der Nibelungenschatz im Rhein, und feindlich ist ihm der, welcher den Nibelungenschatz für sich haben will.

Nicht klar sich bewußt, aber inspiriert von dieser mächtigen, umfassenden Tatsache war Richard Wagner, der bis ins Musikalische hinein dieses darstellt. Erinnern Sie sich an das Vorspiel im Rheingold: was ist der mächtige Orgelpunkt in Es-Dur anderes als der Punkt des Einschlags des Ich in die Menschheit?

Aber so wenig die Pflanze die Gesetze weiß, wonach sie wächst, so wenig braucht der Dichter das Wissen. So müssen wir den schaffenden Künstler auffassen, der von Kräften, die hinter ihm stehen, inspiriert wird. Hier hat ein bedeutender Künstler gefühlt, was der Menschheit wieder einverleibt werden muß. - So sehen wir, wie vorgesorgt ist, daß auch in der Kunst derselbe Geist in die Kultur einströmt, welcher der Theosophie zugrunde liegt. Von zwei Seiten her geschieht es. So muß man das Leben im Ganzen betrachten.


Wir haben den Menschen jetzt bis in die Atlantis zurückverfolgt. Betrachten wir noch einige Einzelheiten. Damals baute man die Häuser nicht so wie heute, sondern man konnte in viel höherem Maße ausnutzen, was in der Natur selbst vorhanden war. Felsenmassen, die man durch Mitbenützung der dort befindlichen Bäume umgestaltet hatte, fügte man zusammen, so daß naturhaft wirkende Häuser die Wohnungen der Menschen waren.

Immer mehr finden wir den Menschen mit Hellseherkraft begabt, je weiter wir zurückgehen; immer mehr treffen wir bei ihm ein Bilderbewußtsein. In Bildern sieht er visionär vor seiner Seele aufsteigen die Gefühle der Wesen, die um ihn herum sind. Auch der Wille ist in der ersten Zeit beim Atlantier noch ganz anders ausgebildet. Heute kann Ihr Wille die Finger spreizen; das ist etwas, was mit der heutigen Kraft der Vorstellung zusammenhängt. In der ersten atlantischen Zeit war der Körper noch eine viel weichere Masse.

Der Atlantier konnte die Finger nicht nur ausstrecken, sondern auch länger

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oder kürzer machen; er hätte leicht seine Hand wachsen machen können. Wenn er eine Pflanze hatte, die klein war, konnte er durch eine Anstrengung seines Willens sie größer werden lassen. Ihm stand eine Art Magie zu Gebote. Auch hatte er ein eigentümliches Verhältnis zur Tierwelt: er nahm etwas wahr, was später nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Mit seinem Blick konnte er eine faszinierende Gewalt über die Tiere ausüben.


Gehen wir noch weiter zurück, so kommen wir in eine Zeit, wo selbst die Atlantis noch nicht da war, wo die Menschen auf einem Kontinent lebten, den man Lemurien nennt. Südwärts vom heutigen Asien dehnte sich dieser Kontinent aus bis nach Afrika und Australien herüber; den bewohnten unsere Vorfahren, als sie noch Lemurier waren. Sie hatten einen viel weicheren Körper als die Atlantier, und der Wille war bei ihnen viel mächtiger ausgebildet als bei den Atlantiern. Dafür aber war der Boden unter den Lemuriern ein recht unsicherer: er wurde fortwährend durcheinandergeworfen von Feuerausbrüchen, vulkanischen Gewalten. Eine Art Feuerland war dies alte Lemurien.

Gehen wir noch weiter in seine Anfänge zurück, so kommen wir zu einem Zeitpunkt, wo das Knochensystem überhaupt erst begann sich herauszugliedern aus der knochenlosen Masse. Dann kommen wir in die Zeit, wo die Erde überhaupt das heutige Mineralreich noch nicht herausgebildet hatte: alles, was heute in den Bergen drinnen ist, haben wir da in einem fortwährenden Hinfließen und Hinrinnen.

Und je weiter wir den Weg der Erdenentwicklung zurückverfolgen, um so höhere Wärmegrade treffen wir an. Da kommen wir zu Zeiten, in denen die Gestaltungen, die heute festes Land sind, so hinrannen, wie heute Quecksilber oder Blei bei einer höheren Temperatur hinrinnen würden. Das Festwerden entwickelt sich erst bei den Lemuriern. Immer dichter und dichter werden die Nebelmassen. Wir haben es nicht mehr zu tun bloß mit einem Nebelmeer, sondern mit einem dichten Glutmeer von Wasserdämpfen, in denen alle möglichen Substanzen aufgelöst sind und hin und her wirbeln. Allerdings in gewissen Partien dieses Wasserdampfes war schon die Möglichkeit geboten, daß der damalige menschliche Vorfahr leben konnte; nur waren damals die Wesen ganz anders geartet.

Wir kommen also zu einem Zeitpunkt hinauf,

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wo der Mensch in einer Art von Urmeer lebte, in einem warmen, wässerig-feurigen Element. Der Kern der Erde war wie von einem Urmeer umgeben, in dem die Keime zu allem enthalten waren, was später sich entwickelt hat. So sah es also auf der Erde aus, unmittelbar nachdem der Mond herausgeflogen und selbständig geworden war.

Wir haben einen Einblick in eine Entwicklung gewonnen bis zu dem Zeitpunkte hin, wo zuerst die Sonne sich von der Erde und von dem Mond getrennt hat, dann der Mond von der Erde sich abtrennte und die Erde in dem Zustand ließ, den ich Ihnen eben beschrieben habe. Wir werden morgen diesen Vorgang, den wir eben von zwei Seiten her zusammengefügt haben, noch einmal betrachten, und auch den weiteren Fortgang des Menschen und der Erde bis in unsere Zeit hinein.